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Die Seele trauert noch – und das Ahrtal wird wieder bunt?

Wie geht es den Menschen hier und jetzt, die im Ahrtal zuhause sind, verbunden sind, leben – und arbeiten? Dazu gehören ja auch die, die sich einen Platz im Seniorenhaus bewusst ausgesucht haben, um hier noch ein paar gute Jahre im schönen gepflegten und beliebten Ahrtal zu erleben. Wie geht es diesen Menschen, die nicht wirklich eine Lobby haben?

Inzwischen ist es fast ein Dreivierteljahr her, seit die Flutkatastrophe im Ahrtal schlimme Verwüstungen angerichtet hat. Viele Menschen sind gestorben, andere an Leib und Seele schwer verletzt worden, wieder andere haben ihre Wohnung, ihr Haus, ihre Erinnerungen, ihre Existenz verloren. Unerträglich schmerzhaft.

Wer sich Nachrichtenbilder aus den Katastrophenwochen dazu noch mal ansieht, kann auch heute noch die eigenen Tränen nicht zurückhalten. Das Leid anderer Menschen berührt uns zutiefst, was gut so ist, weil es uns aktiviert. Auch wenn man gar nicht unmittelbar betroffen ist und schon viele Monate vergangen sind. Klar, man kann es auch lassen, sich die Bilder anzusehen. Doch was bleibt, sind die Bilder im Innern. Mag sein, dass sie inzwischen verblassen. Auch das ist ein wichtiger Prozess, Menschen sind dazu ausgestattet, Trauma und Trauer verarbeiten zu können. Doch was ist zum Beispiel mit dumpfer Trauer, die seitdem im Hintergrund der Seele lauert – und einfach nicht verschwinden will?

TRAUER zulassen, denn Gefühle brauchen Platz – sie verschwinden nicht einfach.
Das gilt ganz besonders für die Trauer. Sie nicht zuzulassen bedeutet, da sammelt sich was an. Es taucht immer wieder auf, es drückt in der Seele. Oder es ist vielleicht auch als Schmerz, als Enge im Hals spürbar, im Brustraum, im Bauchraum, ein Schmerz, der den Atem nimmt. Ein bisschen ist es auch so, wie mit dem Atem, wenn man ihn zu lange anhält. Es bricht heraus und man japst nach Luft. Trauer kommt in Wellen oder ist ein ständiger Begleiter. Je nachdem.
Wer die Trauer zurückhält, wird sie nicht los. Ebenso schlecht dran ist, wer gedrängt wird, zu trauern. Oder wer damit aufhören soll, obwohl es noch lange nicht gut ist. Denn es gibt viele Arten zu trauern, von ganz leise oder unauffällig bis zu ganz laut und auffällig, über einen kürzeren oder einen längeren oder einen ganz langen Zeitraum. Jeder hat seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Hauptsache ist, die Trauer darf da sein. Hauptsache ist, ich darf mit meiner Trauer so sein, wie ich sie gerade erlebe, wie ich sie gerade zulassen kann. Ohne gute Tipps, gut gemeinte Hinweise, freundliche Ratschläge aus meinem Umfeld. Das sind oft mehr Schläge, als hilfreicher Rat. Denn es zählt das, was in einem selbst, in mir als betroffene Person, auftaucht und schon auftauchen kann!

Wie geht es den Menschen hier und jetzt, die im Ahrtal zuhause sind, verbunden sind, leben – und arbeiten? Dazu gehören ja auch die, die sich einen Platz im Seniorenhaus bewusst ausgesucht haben, um hier noch ein paar gute Jahre im schönen gepflegten und beliebten Ahrtal zu erleben. Wie geht es diesen Menschen, die nicht wirklich eine Lobby haben? Denn die allermeisten Mitarbeiter tun ihr Bestes in den Häusern und – sind an der Stelle hilflos, wo der Personalschlüssel einfach oft nicht reicht, um mehr als „satt und sauber“ zu schaffen. So formuliert es die Leiterin einer Einrichtung. Der Personalschlüssel sei zum Verzweifeln. Hier, wie in so vielen Einrichtungen oder auch Krankenhäusern. Für dreißig Menschen auf einer Station oder in einem Wohnbereich sind zwei Pflegekräfte zuständig. Das sei viel zu wenig und komme seit Jahren bei der Politik nicht an. „Das hier ist Mangelverwaltung“. Dazu kam die Flut hier im Tal und jetzt toppen coronabedingte Ausfälle die Lage noch.

Auch im psychotherapeutischen Bereich sieht es für alte Menschen erst recht nicht gut aus. Es gibt kaum spezielle psychotherapeutische Angebote. Vorne stehen in der Regel „medizinisch-pharmakologische“ Lösungen. Dabei bräuchte es die Psyche betreffend gezielt traumatherapeutische Angebote für Hochbetagte. Denn die Generation der Siebzig- bis Achtzigjährigen Plus ist noch unmittelbar oder mittelbar vom zweiten Weltkrieg betroffen, von anderen transgenerativen Traumata ganz zu schweigen. Das trägt sich von der Urgroßelterngeneration über die Elterngeneration zu Kindern, Enkeln und Urenkeln weiter.

Wenn es nicht bearbeitet wird.

Doch funktioniert die aktuell sozialrechtlich zugelassene Psychotherapie (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, systemische Psychotherapie) überhaupt bei hochbetagten alten Menschen, die sehr viel erfahren haben, wo der Krieg noch eine sehr große Rolle in ihre Sozialisation gespielt hat, gesundheitliche Einschränkungen da sind und die mit „bloß nicht drüber reden“ sozialisiert sind? Ja, lautet die unbedingte Antwort, aus humanistischer wie ethischer Perspektive und sowieso, auch aus ganz subjektiver Perspektive. Auch wenn hier traumatherapeutische Kompetenz dazu kommen sollte. Denn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben, die „Zeugenschaft“ eines zuhörenden Menschen und die mögliche Reflexion darüber ist in jedem Alter entlastend – wenn der Mensch nicht gedrängt wird, so angenommen wird, wie er gerade ist. Das gilt für uns alle.

Jedem ist klar, dass er eines Tages „alt“ ist, doch kaum einer will sich damit in jüngeren Jahren beschäftigen. Alt sein heißt demnach, keine Lobby haben. Dabei gilt doch für Menschen in allen Altersstufen dasselbe: Ein Mensch braucht andere Menschen, braucht Wertschätzung, Zuwendung, Anerkennung, Liebe und Fürsorge – bis zuletzt.

„Eines Tages werden wir alle sterben.“ - „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“ (Charlie Brown zu Snoopy, Peanuts)
Es bleibt unwidersprochen: Wir leben bis zum letzten Atemzug. Und zugleich ist das Sterben ein Prozess, auf den wir uns schon mit der Geburt unumkehrbar zubewegen.  Das Sterben gehört damit ganz einfach zum Leben, ist mitten unter uns.  Deshalb ist der Begriff „Sterbebegleitung“ in der hospizlichen Arbeit auch nicht optimal, so Ulrike Dobrowolny, Vorstandsvorsitzende des Hospiz-Vereins Rhein-Ahr: „Es ist Lebensbegleitung bis zum Lebensende“.

Heike F.*, im Ahrtal geboren erzählt, immer noch, wenn sie ins Tal runter zur Arbeit fahre, kommen ihre die Tränen. Bis heute. Ja, an manchen Tagen sei es auch mal weniger, aber es verschwindet einfach nicht. Viele ihrer KollegInnen ackern den Schmerz einfach weg. Arbeiten bis zur massiven Erschöpfung. Der meistgesprochene Satz sei, „Ich komme schon klar“ oder „Muss ja“.

Und dann sieht man doch, dass das so nicht stimmen kann. Woran? Da ist keine richtige Freude mehr im Gesicht des Menschen, der „schon klarkommt“. Es ist eher so, als hätte dieser Mensch eine Rüstung angezogen, die nichts heranlässt oder ein Korsett geschnürt, das alles irgendwie mühsam zusammenhält. Dazu kommt dieses mechanische eingefrorene Lächeln, keine richtige Freude eben und eine Gereiztheit, Dünnhäutigkeit, die unter der Oberfläche spürbar ist.

Traumatisches Erleben löst Hilflosigkeit, Entsetzen, Ohnmacht aus.
Es bedeutet den Verlust von Sicherheit, von Vertrauen, von Halt im Leben. Es ist wie abgerissen sein vom Leben. Nicht mehr verbunden sein mit anderen, allein sein in dem entsetzlichen Erleben. Damit der Mensch nicht an diesem schrecklichen Erleben stirbt, das Herz nicht stehen bleibt, der Kreislauf nicht zusammenbricht, wird das Erleben abgespalten, verdrängt, fragmentiert. Man sieht sich selbst vielleicht wie in einem Film. Man spürt nichts mehr, man sieht und vergisst es vielleicht gleich wieder, ganz oder in Teilen. Das Geschehen wird zunächst aus der Erinnerung verbannt, um die Seele zu schützen.

Oder aber, man kann noch irgendwie aktiv werden, wie es ein Mann getan hat, der vom obersten Stockwerk seines überfluteten Hauses das Entsetzliche unter ihm gefilmt hat. Egal, was getan werden kann, wo eine Aktivität, ein Tun möglich ist, kann das schützen davor, dass Traumabilder bleiben, sich eine Posttraumtische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt. Das bedeutet, dass man die traumatischen Erlebnisse immer wieder „erlebt“, in der Erinnerung oder in Albträumen, dazu ist man ständig unruhig, gereizt bis aggressiv, wachsam bis übererregt, lebt mit dem Gefühl ständiger Bedrohung, hat Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, zieht sich zurück.

Wichtig ist, bei Trauma wie bei Trauer (beides ist oft ähnlich in der akuten Symptomatik), dass die Bewältigungsstrategien jedes Menschen individuell sind. Von einer „akuten Belastungsreaktion“ spricht man, wenn es sich um einen kürzeren Zeitraum handelt – bis zu einem Monat. Ob sich nach einer akuten Belastungsreaktion eine PTBS entwickelt oder nicht, ist ab einer Symptomdauer von rund drei Monaten Thema. Auch ein Thema ist, ob Trauer nicht möglich ist, weil zuerst das Trauma bearbeitet werden muss. Wer also das Gefühl hat, länger aus einem Zustand nicht herauszukommen, immer wieder von Schreckensbildern geplagt wird, die unkontrollierbar auftauchen, wer ständig Angst hat, Unruhe spürt, schreckhaft ist, sollte sich traumatherapeutische Hilfe holen. Auch wer keinen Augenblick mehr aus einer sehr bedrückten Stimmung herauskommt, zunehmend keine Freude mehr verspürt, auch nicht nach einer gewissen Zeit, also eine depressive Symptomatik hat, sollte sich therapeutisch beraten lassen.

Die meisten Menschen im Ahrtal, ob Bewohner oder Helfer von anderswo, haben angepackt, haben geholfen so gut sie konnten, haben aufgebaut, organisiert, unterstützt, geackert – wo es nur ging. Ohne die vielen Helfer von außen wäre alles noch viel schlimmer gewesen, das steht fest. Jedoch, die meisten Helfer haben mehr oder weniger heile Orte, an die sie zurückkehren, in ihr eigenes Leben. Was ja auch richtig so ist.

Doch was ist mit denen, die hier arbeiten, hier leben, geboren sind und also hier sind, waren und bleiben im Ahrtal? Was macht dieses Erleben der Katastrophe an einem ehemals vertrauten, sicheren, schönen Ort, heute mit den Menschen hier, wo sich die Erinnerungen noch immer verknüpfen mit den schrecklichen Bildern?

Ist das noch Trauer oder ist das längst Trauma, wenn man davon nicht loskommt? Und wie lange dauert Trauer denn eigentlich, dürfen das auch Jahre sein? Ja, dürfen! Auch Traumata können nach Jahren erst hochkommen.

Heike F.* erzählt, wie das Wasser in die unteren Etagen des Seniorenwohnhauses eingedrungen ist wie sie verzweifelt die Betten der alten Menschen hochgeschraubt haben, weil keine Zeit mehr war, ihnen aus den Betten zu helfen und sie in Sicherheit zu bringen. Die Menschen lagen quasi im Wasser, rundherum die Flut. Nein, bei ihnen sei keiner ertrunken. Aber viele der alten Leute hier, die zurückkommen ins Haus, seien verstört. Die meisten sind nach der Evakuierung inzwischen zurück, jedoch traumatisiert oder retraumatisiert, weil Kriegsbilder wieder hochkamen oder sie sind bedrückt bis depressiv. Die alten Menschen sind oft nicht mehr dieselben.

Und die Helfer in den Systemen, nicht selten selbst von der Flut betroffen, also doppelt belastet (und dreifach durch Corona), fragen sich, ob das noch normal ist, dass der Schmerz über das Katastrophengeschehen anhält? Nach über einem halben Jahr? Ist das noch normal, dass die Traurigkeit nicht aufhören will? Dass sich manche Tage am Arbeitsplatz so erschöpfend anfühlen, dass am Wochenende nur noch das eigene Bett der Ort ist, an dem man sich aufhalten will? Oder dass man ein schlechtes Gewissen hat, weil man nicht alles verloren hat? Ein schlechtes Gewissen haben, weil man an Urlaub denkt oder in der Sonne sitzt? Während doch andere gar nichts mehr haben, sich nichts mehr leisten können, noch immer im Versorgungszelt ihr tägliches Essen abholen und ihre Wäsche auswärts waschen müssen?

TRAUER dauert so lange sie dauert. Menschen brauchen Tage, Wochen, Monate oder Jahre für ihre Trauer. Da ist keine unbedingte zeitliche Grenze. Trauer ist nichts Krankhaftes, sondern ein „normaler“ emotionaler Prozess, um einen Verlust zu verkraften, der die Seele erschüttert. Im Trauerprozess gibt es ein Auf- und Ab oder anhaltenden dumpfen oder klar spürbaren Schmerz und alles dazwischen. Manchmal verschwindet die Trauer auch gar nicht und wir müssen lernen, mit der Trauer, mit dem Verlust zu leben.
Doch Symptome, wie plötzlich auftauchende bedrohliche Bilder, die unkontrollierbar da sind, gehören in den traumatischen Bereich. Das ständige Gefühl, bedroht zu sein, ebenso. Auch Schlaflosigkeit, Grübelschleifen, sozialer Rückzug und damit verbunden Aggression über längere Zeit kann auf ein Trauma hinweisen – oder auf eine Depression. Das sollte abgeklärt werden.

Katharina S.* erzählt, sie wohne auf einer Straßenseite, die von der Flut verschont geblieben sei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sei alles zerstört worden. Jetzt sind die Häuser dort zum Teil schon wieder aufgebaut. Doch die direkte Nachbarin im Haus gegenüber wird nicht mehr zurückkehren. Sie hat kein Vertrauen mehr in das Leben hier, fühlt sich nicht mehr sicher.  Wie kann sie das tun, fragt Katharina S.? Es wird doch alles wieder „schön und bunt“.

Und doch, sie selbst hat sich seit der Flut nicht in den eigenen Garten getraut. Aus Scham. Weil sie, weil ihr Haus, ihr Garten, ihre Familie verschont wurden. Und sie spürt, wie traurig sie immer noch wird, wie die Tränen kommen.

Trauer bedeutet nicht nur, in Tränen ausbrechen zu können oder still vor sich hinzuweinen. Trauer kann auch als Wut, Ärger, Schuld oder Scham spürbar sein.

Das Nachbarn nicht mehr zurückkehren, drückt auch auf die Seele von Maria S.*. Warum ist das so? Weil es die eigene Hoffnung kleiner macht, dass doch wieder alles gut werden kann. Die Angst ist da, dass über dem Ahrtal eine kollektive Traurigkeit hängen bleibt wie eine fette Wolke.

Die „Corona-Flut“ in professionellen Helfersystemen mache alles noch komplizierter. Kollegen fallen reihenweise aus. Corona, Erschöpfung, Stress, der kein Ende hat: in Schulen, Kitas, Seniorenhäusern, Familien- und Jugendhilfeeinrichtungen, bei der Feuerwehr oder der Polizei.

Trauern über die Flutkatastrophe? Ja, wann denn bitte? Und wo? Doch! Das geht und muss sein, wenn man rauskommen will aus der emotionalen Hochbelastung.

 

Trauer und Verlustverarbeitung sind Kernthemen der Hospizbewegung, die es sicher zur Aufgabe gemacht hat, schwerstkranke Menschen am Lebensende zu begleiten. Die Hospizbewegung ist eine Bürgerbewegung und Bürger sind für Bürger da. Der Hospiz-Verein Rhein-Ahr mit Sitz in Bad Neuenahr hat im Kontext der Flutkatastrophe eine Koordinationsstelle für Trauer und Trauma ins Leben gerufen. Die Angebote finden sich unter https://www.hospiz-rhein-ahr.de/index.php/trauer-und-trauma/unsere-angebote. Ansprechpartnerin ist die Koordinatorin Claudia Hoffmann.