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Fühlen und Denken

Wenn wir über Fragen der Moral und Ethik reden – welche Rolle wird dabei unseren Gefühlen zugemessen und welche Rolle dem Denken? Das Erkennen der Gefühle, die zu einer bestimmten Handlung geführt haben, lassen diese Handlung verstehbar werden, begründen jedoch noch nicht ihre Moralität.

Wenn wir über Fragen der Moral und Ethik reden – welche Rolle wird dabei unseren Gefühlen zugemessen und welche Rolle dem Denken? Verhindern oder stören Gefühle die Auseinandersetzung mit dem, was sittlich geboten ist, oder können sie uns auch hilfreich sein bei der Lösungsfindung?

In Philosophie und Religion hat es eine lange Tradition, zwischen Fühlen und Denken einen polaren Gegensatz anzunehmen. Fühlen war mit Leidenschaftlichkeit, Unberechenbarkeit, Spontaneität und Subjektivität assoziiert, Denken mit Nüchternheit und Rationalität. Gefühle galt es zu kontrollieren. Vor etwa 30 Jahren dann landete Daniel Goleman mit seinem Buch „Emotionale Intelligenz“ einen Bestseller. In der Folge schlug das Pendel zur anderen Seite hin aus. Auf die Gefühle zu hören wurde weit wichtiger als vernünftiges Nachdenken. Heute gehört der „Wutbürger“ ebenso zum gesellschaftlich-politischen Alltag wie der Aufruf „Empört Euch!“ Dabei zeigt uns ein Blick in die Forschung, dass beides, Fühlen und Denken, zusammengehört. Gefühle sind der bewusste Teil der im Körper weitgehend unbewusst ablaufenden emotionalen Körperreaktionen. Diese Emotionen aktivieren, orientieren und steuern den Organismus. Sie regulieren seine Beziehung zur Umwelt unter dem Gesichtspunkt der Bedeutsamkeit. Für Carl Rogers war die Intensität von (bewusstseinsfähigen) Gefühlen abhängig von der wahrgenommenen Bedeutung eines Erlebens oder einer Handlung für die Aufrechterhaltung oder Entwicklung des Organismus.

In der philosophischen Ethik finden wir unterschiedliche Positionen hinsichtlich des Stellenwerts von Verstand und Gefühl. Vor allem zwei Denker der Aufklärung sind hier zu erwähnen: David Hume (1711–1776) und Immanuel Kant (1724–1804). Sowohl für Hume als auch für Kant liegt der Ursprung der Moral im Menschen und nicht in etwas, das von außen einwirkt wie eine göttliche Offenbarung oder überlieferte Traditionen. Während Hume moralisches Handeln auf subjektiv erlebte Gefühle zurückführt, damit also einem empirischen und eher beschreibenden Ansatz folgt, geht Kant davon aus, dass moralisches Handeln auf der Fähigkeit zu autonomem Denken, auf vernunftmäßiger Einsicht beruht. Hume zufolge basieren moralische Gefühle auf Mitgefühl (sympathy), die Neigung dazu sei Menschen ebenso angeboren wie das Streben nach eigenem Vorteil. Diese Fähigkeit zum Mitgefühl könne und müsse aber gefördert und entwickelt werden. So sind es für Hume vor allem die „ruhigen Affekte“, die er als moralische auszeichnet. Sie setzen voraus, dass persönliche Interessen und Bindungen gleichsam eingeklammert werden und im intersubjektiven Austausch durch Mitfühlen generelle Wertmaßstäbe ausgebildet werden können. Hier kommt also auch bei Hume, trotz der von ihm betonten Trennung von Affekt und Vernunft, das Denken hinzu, indem nämlich Gefühle einen wertenden Gehalt in Bezug auf die infrage stehende Handlung zum Ausdruck bringen.

Kant kritisierte die Subjektivität und Kontextgebundenheit moralischer Gefühle. Er sieht den handelnden Menschen als Vernunftwesen, wobei die Vernunft als autonom postuliert wird und sich von sinnlichen und faktischen Bedingungen lösen muss. Moralisch bewertet werden sollen nicht einzelne Handlungen, sondern die diesen Handlungen zugrunde liegenden Maximen (praktische Grundsätze), an denen sich der menschliche Wille ausrichtet. An ihrer Verallgemeinerbarkeit erweist sich, ob eine Maxime als moralisch gut bewertet werden kann oder nicht. Da aber die Einsicht in das moralische Gebotene nicht zwangsläufig auch zu moralischem Handeln führt, sieht auch Kant die Notwendigkeit, moralische Gefühle auszubilden und zu stärken. Einen hohen Stellenwert hat für ihn die gefühlte Selbstachtung, die sich einstellt, wenn man das tut, was die Vernunft gebietet. Darüber hinaus geht es für ihn auch um Gefühle wie Dankbarkeit und Mitleid.

In neuerer Zeit hat die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum dargelegt, inwiefern Gefühle Formen von Werturteilen sind. So geht es etwa bei Trauer um den Verlust einer Person oder einer Sache, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat. In dem Gefühl der Trauer verbinden sich Erkenntnis und Erschütterung.

Das Erkennen der Gefühle, die zu einer bestimmten Handlung geführt haben, lassen diese Handlung verstehbar werden, begründen jedoch noch nicht ihre Moralität. In Therapie und Beratung ist Verstehen der Weg zur Veränderung. Aber bei ethischen Fragen spielt die Moralität einer Handlung eine Rolle. Und diese ist erst dann gegeben, wenn das mit den Gefühlen verbundene Werturteil als verallgemeinerbar und für alle verbindlich anerkannt werden kann. Es ist davon auszugehen, dass Denken und Fühlen in enger Verbindung stehen und beide wichtig sind. Gefühle beeinflussen unser Denken, aber auch umgekehrt können wir mit unserem Denken Einfluss auf Gefühle nehmen, wir können sie befragen, modifizieren und uns auch entscheiden, gegen sie zu handeln. Ein Beispiel: Im März 2022 wurde auf vielen Solidaritätskundgebungen für die Ukraine die Forderung „close the sky“ erhoben. Ein verständlicher moralischer Impuls. Die westlichen Regierungen haben sich jedoch dagegen entschieden, da eine Schließung des Luftraums ein Eingreifen der NATO erforderlich gemacht und damit die Gefahr eines dritten Weltkrieges heraufbeschworen hätte.

Zweifellos lassen wir uns von moralischen Impulsen leiten, die sich oft stark und in Sekundenschnelle einstellen, um ein Ereignis oder eine Handlung gefühlsmäßig zu bewerten. In sie eingegangen sind all die Erfahrungen, die wir gemacht haben, das Wissen, das wir angesammelt haben und die Regeln, die wir gelernt haben. Wenn es um Ethik und Moral geht, gilt es jedoch, diese Impulse einer Prüfung zu unterziehen, um sie rechtfertigen oder verwerfen zu können.