Sie sind hier:

Individuelle Freiheit und Solidarität – ethische Herausforderungen in der Pandemie

Was wir heute erleben, führt zu vielfältigen, einander teilweise widersprechenden Einschätzungen, Vorschlägen zum Umgang und auch zu ethischen Konflikten. So nicht zuletzt zu der Frage, welche Einschränkungen gesetzlich verankerter individueller Freiheitsrechte angemessen oder sogar geboten sind...

Individuelle Freiheit und Solidarität – ethische Herausforderungen in der Pandemie

ein Beitrag von Gabriele Isele

Die Pandemie stellt für unsere modernen globalisierten Gesellschaften eine noch nicht erlebte Herausforderung dar. Wurden in der Geschichte der Menschheit Seuchen, Infektionen etc. eher regional/national/kontinental begrenzt zu einem Problem, zeigt sich seit der AIDS-Krankheit und spätestens jetzt, dass ein Ausbruch in irgendeinem Land der Welt schnell globale Auswirkungen hat. Trotz der Warnung von Virologen und Epidemiologen wurde dem Aspekt von Vorsorge nicht genügend Beachtung geschenkt, sodass die Pandemie uns in vielen Bereichen unvorbereitet getroffen hat. Was wir heute erleben, führt zu vielfältigen, einander teilweise widersprechenden Einschätzungen, Vorschlägen zum Umgang und auch zu ethischen Konflikten. So nicht zuletzt zu der Frage, welche Einschränkungen gesetzlich verankerter individueller Freiheitsrechte angemessen oder sogar geboten sind.

Zwischen den konkurrierenden Gütern wie dem gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung, der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Gesundheitssystems auf der einen Seite und den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und psychischen Auswirkungen auf der anderen Seite bedarf es einer verantwortlichen ethischen und politischen Abwägung. Es müssen Kriterien aufgestellt werden, die begründet und transparent sind, und beschlossene Maßnahmen müssen zeitlich begrenzt und rechtlich überprüfbar sein. Ein demokratisch verfasster Staat mit Gewaltenteilung bietet dazu eine gute Voraussetzung.

Die Neuartigkeit der Situation, das noch fehlende Wissen über das Virus, seine Infektiosität, seine Mutationen, die unterschiedliche Schwere von Krankheitsverläufen, das Fehlen von wirksamen Medikamenten und die Tatsache, dass ein Impfstoff zunächst nicht existierte, haben dazu geführt, dass Entscheidungen über Maßnahmen der Prävention und der Krisenbewältigung unter großer Unsicherheit getroffen und immer wieder verändert werden mussten und müssen. Die Debatten darüber werden nach wie vor mit großer Heftigkeit geführt.

Der ethische Kernkonflikt ist fast immer der zwischen individueller Freiheit auf der einen und Solidarität auf der anderen Seite. In welchen Bereichen zeigt sich das momentan besonders? Hier einige der wichtigsten, dem heutigen Stand (Ende Januar) entsprechend und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

  • Ist das Tragen einer Maske ein gebotener Schutz der Anderen oder eine Zumutung für die Lebensführung des Einzelnen?
  • Unter welchen Bedingungen ist eine Aufhebung von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte (z. B. Reiseerlaubnis) zulässig, ohne dass damit der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird?
  • Wieviel Lebensrisiko darf man der Bevölkerung zumuten, ohne besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen zu benachteiligen, d. h. ohne den Grundsatz zu verletzen, dass jedes menschliche Leben den gleichen Schutz genießt?
  • Ist die Orientierung an einer möglichst großen Zahl geretteter Menschenleben eine unbedingte oder eine bedingte Forderung? Welche Auswirkungen auf das existenzielle Funktionieren und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens sind wie lange tragbar und zumutbar?
  • Welche Schutz- und Isolationsmaßnahmen für Risikogruppen sind nicht nur effektiv, sondern auch (er)tragbar und stellen nicht ihrerseits eine Verletzung von Grundrechten und eine Diskriminierung dar?
  • Welche Vorsorgemaßnahmen müssen wir als Gesellschaft treffen, um für Krisen wie diese Pandemie besser gerüstet zu sein? Dürfen wir beispielsweise Bereiche der Grundversorgung und Daseinsfürsorge wie Gesundheit und Bildung nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisieren?

Auch innerhalb unseres Berufsfeldes von Therapie und Beratung werden fachliche und ethisch relevante Fragen deutlich, die sich bisher vielleicht noch nicht in dieser Dringlichkeit gestellt haben:

  • Wie sichern wir ein qualitativ hohes therapeutisches/beraterisches Angebot unter Pandemiebedingungen? Was sind wir bereit, an Zeit des Neu-Lernens oder Dazu-Lernens und ggf. an technischer Aufrüstung zu investieren? Ist das notwendig?
  • Wie sorgen wir verantwortlich für den Datenschutz im Homeoffice und in Online- und Telefonberatungen? Was ist wichtig, gegenüber KlientInnen transparent zu machen? Wie gehen wir mit Wünschen nach Kontakt über Social Media um? Mit E-Mails?
  • Mit welchen Fragen der Vertraulichkeit müssen wir uns neu auseinandersetzen? Wie kommen wir unserer Sorgfaltspflicht nach, wenn wir von zu Hause aus arbeiten?
    Wie sichern wir Ungestörtheit, wenn Klienten ihrerseits zu Hause sind und eventuell ihre Kinder im Homeschooling betreuen?
  • Wie werden wir den Bedürfnissen von KlientInnen gerecht, die Präsenztermine wünschen oder brauchen, ohne den eigenen Schutz und den unserer Angehörigen zu gefährden?
  • In der Pandemie und im Lockdown sind KlientInnen und TherapeutInnen/BeraterInnen gleichermaßen betroffen. Das kann unser Beziehungsangebot beeinflussen. Das könnte etwa zu einer Rollendiffusion führen. Professionelles Handeln bedarf hier einer besonderen Aufmerksamkeit.
  • Wie reagieren wir auf KlientInnen, die hinsichtlich der aktuellen Politik in der Pandemie eine Meinung vertreten, die der unseren entgegengesetzt ist und die mit uns darüber reden möchten? Wie bleiben wir zugewandt, auch wenn uns das Thema aufregt?

Um eine moralisch verantwortliche Haltung zu finden brauchen wir ein rationales ethisches Abwägen, ohne unser Mitfühlen zu verlieren, aber auch ohne davon weggetragen zu werden. Vielleicht ist das Wichtigste, die Ambivalenzen und Konflikte nicht vorschnell aufzulösen, sie sind ein natürlicher Teil unserer psychischen Realität. Es gilt, immer aufs Neue die Grundhaltung des Suchens einzunehmen, im Prozess zu bleiben und nicht in Schuldzuschreibungen zu verfallen. Es ist unsere Aufgabe, sowohl rational abzuwägen wie auch uns empathisch in individuelle Situationen hineinzuversetzen und dabei immer auch das eigene Erleben selbstexplorativ zu berücksichtigen. Entscheidungen aber sind immer wieder erforderlich und im politischen Raum gilt es, Kompromisse einzugehen. Sie müssen von uns verantwortet werden und gehen bei dilemmatischen Situationen notwendig immer auch mit Verlust und Schmerz einher.