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Moralische Verletzung und moralischer Stress

Besonders Menschen mit einer altruistischen Wertorientierung und einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen laufen Gefahr, eine moralische Verletzung oder moralischen Stress zu erleiden, da sie das Leid anderer als eigene Belastung wahrnehmen...

Moralische Verletzung und moralischer Stress - Eine Begriffserklärung

„Wir sind überwältigt und verbittert in einem Maße, das wir nicht in Worte fassen können“, sagte Marcus Grotian, der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte, im August 2021. „Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt, und das ist beschämend.“ Die Regierung habe Warnungen vor der drohenden Machtübernahme der Taliban zu lange ignoriert, habe durch übermäßige Bürokratie gezielt versucht, die Zahl der nach Deutschland ausreisenden Ortskräfte möglichst niedrig zu halten.

Der Begriff „moralische Verletzung“ wurde erstmalig in den 1990er Jahren von Jonathan Shay, einem US-amerikanischen Psychiater, der sich mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) befasst hat, bezüglich der Erfahrungen von Kriegsveteranen und Soldaten definiert: Moralische Verletzung liegt vor, wenn durch jemanden, der die legale und meist auch als legitim anerkannte Entscheidungsgewalt besitzt, moralische Werte in einer existentiellen Situation verraten wurden.

Inzwischen bezieht sich der Begriff auf alle Erfahrungen, bei denen durch Teilnahme an einem Geschehen oder die Nicht-Verhinderung dieses Geschehens tief verwurzelte moralische Überzeugungen und Erwartungen erschüttert wurden. Auch die bloße Zeugenschaft kann bereits Auslöser sein.

Bereits in den 1980er Jahren hatte der Begriff „moralischer Stress“ in Bezug auf die Krankenpflege Beachtung gefunden: Er bezog sich auf Situationen,  in denen Pflegekräfte sich durch institutionelle Bedingungen daran gehindert erleben, das umzusetzen, was sie als gute Patientenversorgung gelernt haben. Zum Beispiel durch Mangel an Zeit, an Gerätschaften, an Personal etc. „Die aus solchen Dilemma-Situationen hervorgehende Belastung kann zu Mitgefühlsermüdung und Burnout führen – solche Situationen können aber auch, sofern es gelingt, sie bewusst zu konfrontieren, die eigenen Werte und Moralvorstellungen der Betroffenen festigen und formen.“

Wenn also Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan darauf vertraut haben, dass die Entscheidungen der Bundesregierung mit ihren eigenen Wertvorstellungen im Einklang sind, wurde dieses Vertrauen durch den übereilten Rückzug und die vielfältigen Erfahrungen, hilfesuchende und schutzbedürftige Menschen zurückweisen und im Stich lassen zu müssen, massiv verletzt. Eine nicht ausreichende Anerkennung für die eigene Leistung, Desinteresse oder Unverständnis im privaten Umfeld und der Gesellschaft können bei rückkehrenden Einsatzkräften dann noch verstärkend wirken.

Nun mag der eine oder die andere fragen, worin sich diese Begrifflichkeit von der einer Traumatisierung oder PTBS unterscheidet bzw. inwiefern hier eine Differenzierung hilfreich und sinnvoll ist. Nach neueren US-amerikanischen Studien[1] ist moral injury ein gegenüber der PTBS eigenständiger Symptomkomplex. Im Vordergrund stehen Schuld und Scham, sozialer Rückzug, Anhedonie und (Sich-)Nicht-vergeben-Können, während Angst, Intrusionen und Flashbacks weniger häufig vorkommen. Depression, Ärger, Substanzmissbrauch und Schlaflosigkeit dagegen können bei beiden auftreten. Gerade Scham führt dazu, entweder mit Isolation (sich vor anderen verstecken), Sucht (sich vor sich selbst verstecken), Aggressivität (andere angreifen) oder Depression (sich selbst angreifen) zu reagieren.

Besonders Menschen mit einer altruistischen Wertorientierung und einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen laufen Gefahr, eine moralische Verletzung oder moralischen Stress zu erleiden, da sie das Leid anderer als eigene Belastung wahrnehmen.

In Therapie und Beratung kann es daher hilfreich sein, traumatische Erfahrungen durch das Erleiden von Gewalt durch andere oder auch durch Unfälle oder Katastrophen von solchen Erfahrungen zu unterscheiden, bei denen die Verletzung des Wertgefüges im Vordergrund steht, und das auch einfühlend zu thematisieren. Darüber hinaus sollte deutlich geworden sein, dass auch die systemische, organisationale Perspektive in den Blick rücken muss. Ethische Orientierung und Reflexion kann da sowohl in Bezug auf die Arbeitsbedingungen wie auch in der Schulung von Führungskräften und in der Supervision einen wichtigen präventiven Beitrag leisten.

 


[1]Vgl. Peter Zimmermann, Christian Fischer, Thomas Thiel, Christina Alliger-Horn (2019) Werte-orientierte Psychotherapie bei Einsatzsoldaten. Bundeswehrkrankenhaus Berlin