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Nach – Gedacht: Klatschen allein nützt wenig

Derzeit werden, laut Pflege-Report 2019, die gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen von rund 590.000 Pflegekräften betreut. Bekanntlich reicht das schon jetzt nicht. Aber bereits für 2030 erwartet der Report einen Bedarf von 720.000 und bis 2050 sogar von rund 970.000 Fachkräften....

 

 

Kommentar von Jürgen Kriz

 

Wertschätzung zu erfahren beziehungsweise diese gegenüber Mitmenschen auszudrücken gehört zu den wichtigsten Aspekten eines gedeihlichen Miteinanders. So gesehen müssten sich viele Menschen im Gesundheitsbereich in diesen Zeiten von Corona anerkannt fühlen. Denn wie nie zuvor wurde der Ausdruck von Wertschätzung in großem Stil öffentlich inszeniert.

Zur Erinnerung: In einer Meldung der ARD vom 19.März 2020 hieß es beispielsweise: „Am Mittwochabend um 21 Uhr waren vielerorts in Deutschland Applaus und Jubelrufe zu hören. Zahlreiche Menschen standen am offenen Fenster oder auf ihren Balkonen und klatschten: für Pflegepersonal und Ärzte, aber auch für Beschäftigte im Einzelhandel und für alle Helfer, die ohne Pause gegen den Coronavirus im Einsatz sind. Diese Berufsgruppen haben täglich viel Kontakt zu Menschen, auch zu potenziell Erkrankten“. Von „Zusammenhalt und Anerkennung zeigen" war viel die Rede. 

Diese Beifall-Inszenierungen waren gut gemeint. Und es sollte auch nicht unterschätzt werden, dass damit auch die Diskussion über mangelnde finanzielle Wertschätzung dieser Berufe über Jahrzehnte vielleicht etwas Auftrieb erhielt – so wie ja auch die seit Jahrzehnten bekannten menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen beispielsweise(!) in der Fleischindustrie durch massenhafte Corona-Infizierte endlich zur Kenntnis genommen wurden und sogar zu gesetzgeberischen Maßnahmen geführt haben. Dennoch ist leider fraglich, ob die bekundete Wertschätzung wirklich dazu führt, dass diese Menschen eine angemessene Bezahlung erhalten.

Denn als nun, Mitte Juli, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der ZDF-Talkshow von Dunja Hayali damit konfrontiert wurde, dass die Pflegekräfte „unterbezahlt, überarbeitet und geringgeschätzt“ seien, zeigte er nur wenig Einsicht. Der eingeladenen Pflegefachkraft Branka Ivanisevic fiel er ins Wort, als sie erklärte, ihrer Tochter den Pflegejob niemals als Arbeit empfehlen zu wollen. Spahn beschwerte sich, dass in der Debatte nur die negativen Aspekte angesprochen würden. „Wie soll sich denn durch solche Aussagen der Ruf dieser Arbeit verbessern!?“, rief er. Dabei stellte Ivanisevic nochmals klar, dass nicht die Arbeit als solche, sondern die Bedingungen und die Honorierung so abschreckend von der Politik gestaltet werde, dass viele trotz großem Interesse diesen Beruf nicht ergriffen oder sich gezwungen sähen, auf andere Tätigkeiten umzusteigen, um den Lebensunterhalt hinreichend  bestreiten zu können. In der Tat: Laut dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel wurden in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland rund 625.000 Pflegekräfte ausgebildet, davon haben aber schätzungsweise 335.000 den Beruf verlassen.

Derzeit werden, laut Pflege-Report 2019, die gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen von rund 590.000 Pflegekräften betreut. Bekanntlich reicht das schon jetzt nicht. Aber bereits für 2030 erwartet der Report einen Bedarf von 720.000 und bis 2050 sogar von rund 970.000 Fachkräften. Wo die herkommen sollen, weiß niemand. Mit Beifall von den Balkonen bei gleichzeitig abschreckenden Arbeitsbedingungen wird das jedenfalls nicht zu stemmen sein.

Selbst mit den großspurig angekündigten einmaligen „Bonuszahlungen für Pflegekräften“ hapert es gewaltig. Diese Boni hatte Spahn Anfang April versprochen, als er auf einer Pressekonferenz sagte: „Ich möchte, dass es diesen Bonus gibt. Wir müssen aber darüber reden, wie er diejenigen erreicht, die er erreichen soll.“ Gemeint seien damit „die Pflegekräfte, die jeden Tag diese schwierige Arbeit machen“.

Wie man nun etwa auf den Seiten „Rechtsanwälte des ETL-Netzwerkes“ in bestem Juristendeutsch nachlesen kann, sind eben nicht alle gemeint: „Die nach § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtungen werden verpflichtet, ihren Beschäftigten im Jahr 2020 zum Zweck der Wertschätzung für die besonderen Anforderungen während der Pandemie jeweils eine einmalige Sonderleistung zu zahlen – die sogenannte Corona-Prämie, auch Pflegebonus genannt.“  Wer sich auskennt, kann daraus lesen, dass Pflegekräfte in Krankenhäusern leer ausgehen. Obwohl ihre Belastung durch Corona nicht weniger schwer war. So führte Hermann Reichenspurner, Klinik-Direktor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, im Spiegel-Interview vom 22. Juli 2020 aus: „Das Pflegepersonal musste während der Krise unglaublich schwer schuften (…). Die Covid-Patienten sind extrem aufwendig zu pflegen. Man trägt eine Schutzkleidung, eine FFP2-Maske (…), davor noch ein Plexiglasvisier. Und mit dieser Montur muss körperliche Schwerstarbeit geleistet werden, (…) die Intensivpatienten müssen gehoben, gewendet, gedreht oder sauber gemacht werden (…). Da denkt man sich dann: „Mensch Meier, das leisten unsere Pflegekräfte jeden Tag." Immerhin zahlen inzwischen auch manche Kliniken freiwillig einen kleinen Bonus – aber längst nicht alle. In der Talkshow auf die Ungleichbehandlung des Pflegepersonals angesprochen, erklärte Spahn: „Am Ende muss es auch finanziert werden.“

Angesichts des Corona-Kuchens in dreistelliger Milliardenhöhe für „die Wirtschaft“ – welche auch  die Millionen für Manager-Boni, Aufsichtsräte und Aktionäre sichern helfen – sind da eben nicht für alle ein paar Krümel zum „Zwecke der Wertschätzung“ für die Pflegekräfte drin.  

Was den Politikern wirklich etwas wert ist, wird gerade auch in diesen Tagen von Corona wieder überdeutlich: In der EU wurde das größte Budget- und Finanzpaket der EU-Geschichte mit insgesamt unvorstellbaren 1.824 Milliarden Euro geschnürt. Dabei sind sehr viele großzügig bedacht – gespart wird in diesem Paket allerdings bei Umwelt, Bildung und Gesundheit.

Da nützt denn auch kein Klatschen vom Balkon.