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Netzperlen

Im Meer findet man Muscheln und in manchen Muscheln sogar Perlen. Wunderschöner Perlmutt, große, kleine, rosafarbene, strahlend weiße, einzigartig geformte Schmucksteine. 

Man kann sich aber auch ewig im Meer aufhalten, ohne auch nur eine Muschel, ohne einen der wunderbaren Meeresbewohner oder die unglaublich farbenprächtigen Riffe zu entdecken. Je nachdem, wie bewusst und wohin ich meine Aufmerksamkeit richte, nehme ich vielleicht nur jene Teile des Meeres wahr, die nicht gerade schillern. Schmelzendes Eis etwa, von ursprünglichen Bewohnern komplett ausgestorbene Bereiche, hektarweise Unmengen von Plastikmüll oder Ölschlieren.

Um Perlen zu finden, braucht es den Blick dafür, eine Art Grundwissen, wo ich suchen muss, bestimmte Fähigkeiten und geeignetes Equipment, Geduld und ein Quäntchen Glück. Besondere Freude bereitet es uns, wenn wir Menschen um uns haben, mit denen wir entweder gemeinsam auf die Suche gehen oder mit denen wir die Freude über eine besonders schöne Perle teilen können.

Es ist eine Entscheidung zu treffen, welchen Blick ich gerade einnehme. Beide Möglichkeiten sind grundsätzlich in Ordnung: Entweder ich schaue auf den Müll oder ich sehe die Schätze. Das Glas ist halb voll oder halb leer. Hundemensch oder Katzenmensch. Optimist, Pessimist. Muss ich mich entscheiden? Geht man nur „entweder – oder“?

Szenenwechsel. Vor genau einem Jahr habe ich in der Region Ruhrgebiet die Fortbildung zu Personzentrierter Therapie mit traumatisierten Klienten/innen mit Petra Claas besucht. Auch so eine wundervolle Perle. Schon Jahre zuvor hatte ich die Fortbildung bei ihr mit gleichem Titel bereits erlebt und war so beeindruckt von ihrer durch Klarheit und Natürlichkeit geprägten Sicht und Haltung. Ob Sie es glauben oder nicht: Obwohl ich Mitarbeiterin der GwG bin, informiere auch ich mich, wie Sie, ganz regelmäßig über unsere Homepage oder den Newsletter, welche Fortbildungen wir gerade anbieten. Da war ich froh, ausgerechnet diese Veranstaltung bei meiner Auswahl der jährlichen Fortbildungen gefunden zu haben. 

Neu und bereichernd waren für mich Petra Claas‘ Schilderungen über die „radikale Akzeptanz“, eine Begrifflichkeit, die sie von Ann Weiser Cornell adaptiert habe. Ihre Buchempfehlung war „Die Kunst des Annehmens. Leben und arbeiten mit Focusing“ von Ann in Zusammenarbeit mit Barbara McGavin. Ich bin gerade auf Seite 132. Das Buch lag fast ein Jahr im Regal. Mein erstes Focusing-Buch, das ich wirklich lese. Was ich bislang verstehe, ist die Idee, dass es viele Gedanken und Gefühle gibt, die es wahrzunehmen und voll und ganz anzuerkennen gilt. Ganz PZA. Der Weg, über „Teile“ zu sprechen, ist etwas Neues für mich. Ein Teil von mir ist so wütend über den Müll im Meer. Und da ist ein weiterer Teil, der Sorge hat, dass diese Wut mich beherrschen könnte, weil sie so endlos und mächtig wirkt, wie die Müllschwaden. Ich bin auch noch nicht sicher, ob ich das so gut finde: die Arbeit mit Teilen. Ich verstehe den Gedanken, durch gezielte Separation Dinge zu fokussieren und sie dadurch anzuerkennen. Aber ich verstehe personzentriertes Arbeiten anders. Ruhig Blut, liebe/r erfahrene/r Focusing-Leser/in, die nun in Aufregung gerät: Ich lerne Focusing ja gerade erst kennen! 

Was ich besonders hilfreich finde, ist die Idee, dass ich mich nicht entscheiden muss, das eine oder das andere zu sehen oder zu sein. Vielmehr ist es die Vorstellung, dass ich alles bin. Mal bin ich die, die den Blick auf das ganze Schlechte wirft. Mal die, die den Blick auf das Gute hat. Und jeweils im einen unterwegs, bin ich mir aber besser bewusst über die Existenz des anderen. Dann ist alles ein gesunder Fluss. Und ich kann mich nun, da ich die unterschiedlichen Teile richtig erfasst habe, viel besser entscheiden, welchen Teil ich wähle.

In Bezug auf das Internet und insbesondere Social Media gibt es Zeiten, da sehe ich nur den ganzen Rotz: Hate Speech aus der rechten Ecke, verhungernde Menschen im Jemen, getötete Menschen in Syrien, abgelehnte Anerkennungsanträge vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie ... Wenn ich dann ohnehin eher mit meinen deprimierten Teilen in Kontakt bin (dunkler Winter, viel Arbeit, Viren überall …), vergesse ich beinahe, dass es auch „leuchtende“ Seiten im Internet gibt.

Welche Perlen ich im WWW gefunden habe, das will ich gleich verraten. Diese Perlen haben mich abgeholt und einen tiefen Kern in mir berührt. Dieser Kern hat einen Wunsch, eine Vision, ein Streben. Er nennt sich für mich Hoffnung und wird von tiefer Sehnsucht begleitet. Es ist die Sehnsucht und Hoffnung auf eine Gesellschaft, die gut miteinander ist. Wo Begegnungen von zwei Personen zueinander bis hin zu den Begegnungen und Umgang einer ganzen Menschheit miteinander „gut“ sind und ausschließlich gesundes Wachsen stattfindet. 

The degree to which I can create relationships, which facilitate the growth of others as separate persons, is a measure of the growth I have achieved in myself (Rogers, C. (1961/1995). On becoming a Person: A Therapist´s View of Psychotherapy. Boston: Houghton Mifflin Harcourt.S. 56).

Es gibt so viele Perlen im Netz. Und ich habe mir vorgenommen, meine Aufmerksamkeit mehr auf siezu richten. Und auch Dich, liebe Leserin und lieber Leser, einzuladen, dort gemeinsam mit mir hinzuschauen. 

Über den griechischen Personzentrierten Psychotherapeuten Vasileios Kiosses, der die Facebook-Seite für sein Empathize me, doctor-Projekt betreibt, bekam ich ein schönes Zitat von Kyle Miller zu sehen: „Empathy isn´t knowing how you would feel if you were in her shoes. It´s understanding how she feels in her shoes.“ 

Dann gibt es einen mich tief berührenden Film aus Dänemark von TV2. Er heißt All that we share.  Schau Dir das Video bei Youtube an. Mit Ton. Und mach Dir einen eigenen Eindruck!

Der Bewegung Center for Building a Culture of Empathy and Compassion folge ich schon lange. Diese Seite hat immerhin über 30.000 Follower und berichtet über Kongresse, Artikel und über ihre speziellen Aktionen: zum Beispiel Zelte, mitten in Fußgängerzonen, wo Menschen eingeladen werden, den Wert der Empathie mit ins Leben zu nehmen. Stell Dir vor, das wäre eine Bewegung, die wir auch übernehmen und ganz praktisch als PZAler/innen in den deutschen Großstädten regelmäßig anbieten würden, um miteinander in Kontakt zu kommen und uns wirklich gegenseitig zuzuhören. Wenn ich mir diese Facebook-Seite von „Center for Building a Culture of Empathy and Compassion“ so angucke, oder an den oben genannten Film denke, wird mir warm ums Herz. Und ich spüre, es berührt diesen Teil in mir, der ein persönlicher Urkern ist. Eine Urperle.

Ahoi,
Eure Meike Braun

E-Mail: braun@gwg-ev.org