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Schatten und Licht

Wenn in vielen Lehrbüchern die Gesprächspsychotherapie im Kontrast zu umfangreichen und differenzierten Darstellungen der Verhaltenstherapie nur auf einer oder wenigen Seiten erwähnt wird, lassen sich selbst bei gutem Willen die Studierenden nicht angemessen informieren...

Aus der Rubrik Nach-Gedacht, ein Kommentar von Jürgen Kriz

In Heft 1/2021 der Zeitschrift PERSON analysieren die vier Autorinnen Jana Lammers, Claudia Oelrich, Kathleen Raasch und Julia Spreitz die Darstellungen des Personzentrierten Ansatzes  bzw. der „Gesprächspsychotherapie“ in weit verbreiteten deutschsprachigen Lehrbüchern von Klinischer Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Ratgeberliteratur. Sie kommen am Ende zu dem Ergebnis, dass „häufig verkürzte und damit fehlerhafte Darstellungen“ geboten werden. So fehlen weitgehend „in Genauigkeit und Umfang angemessene Beschreibungen des Personzentrierten Ansatzes mit einer korrekten Bezeichnung zentraler Begriffe (z. B. Empathie oder die häufig zur Wertschätzung verkürzte Bedingungsfreie Positive Beachtung) und Konzepte (z. B. das der Aktualisierungs- bzw. Selbstaktualisierungstendenz)“.

Auch vermissen die Autorinnen „wissenschaftliche Genauigkeit, die sich etwa auch in der Angabe von Quellen niederschlagen würde“. Mehrfach müssen sie berichten: „Leider werden (…) keine Quellen benannt, auf die sich die hier untersuchte Darstellung stützt.“ Und dass auffällt, „dass sich in den genannten Veröffentlichungen wiederholt ähnliche fehlerhafte Darstellungen zentraler Konzepte finden. Sodass der Eindruck entstehen könnte, die Autor*innen bezögen sich in ihrer Recherche eher aufeinander als auf Originalliteratur, was zu einem Persistieren von Falschdarstellungen beitragen würde“. Etwa wenn sie beim Lehrbuch über Klinische Psychologie (Hautzinger & Thies)  feststellen müssen: „Diese Darstellung entbehrt jeglichen Bezugs zur klientenzentrierten Theorie. Es werden persönliche Meinungen kundgetan bzw. Missverständnisse des Menschenbilds des PZA – z. B. die Auffassung, Menschen seien ‚von Natur aus gut‘ – kolportiert.“

Solche Mängel sind in Lehrbüchern natürlich besonders bedauerlich, weil sich diese ja vornehmlich an Studierende richten. Auch bei inhaltlich ausgerichteten Beiträgen sollten hier die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens zumindest implizit mit vermittelt werden. Doch der Analyse der vier Autorinnen zufolge finden sich in den deutschsprachigen Werken die oben nur angedeuteten Mängel zuhauf – und zwar sowohl in Lehrbüchern zur Klinischen Psychologie als auch zur Psychotherapie als auch zur Psychiatrie. Kein Wunder, dass es in der Ratgeberliteratur nicht seriöser zugeht.

Bei der naheliegenden Frage, welche Gründe wohl für diesen diskreditierenden Umgang mit der Gesprächspsychotherapie von Seiten der Lehrbuchautoren anderer Verfahren auszumachen wären, verweisen die Autorinnen auf zwei zentrale Aspekte: Zum einen haben Vertreter:innen des Personzentrierten Ansatzes selbst mit dazu beigetragen, dass nicht immer die gehaltvolle Theorie vermittelt wird – angefangen bei Reinhard Tausch, dessen große Verdienste in der Etablierung dieses Ansatzes an deutschen Universitäten um den Preis erkämpft wurde, Konzeptuelles, wie etwa die Aktualisierungstendenz, zugunsten recht vordergründiger Empirie mit operationalisierten „Variablen“ zu vernachlässigen. Zum anderen liegt im Kontext der jahrzehntelangen berufspolitischen Auseinandersetzung um die sozialrechtliche Anerkennung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland ein interessengeleiteter Darstellungsbias auf der Hand. Diskreditieren, Falschdarstellen und Marginalisieren verhinderten, den „Kuchen“ an Ausbildungen, Therapien und Forschungsgeldern mit der vierten Grundorientierung teilen zu müssen. Wenn in vielen Lehrbüchern die Gesprächspsychotherapie im Kontrast zu umfangreichen und differenzierten Darstellungen der Verhaltenstherapie nur auf einer oder wenigen Seiten erwähnt wird, lassen sich selbst bei gutem Willen die Studierenden nicht angemessen informieren.

Nun dauert es ja immer eine Zeit, bis ein Zeitschriftenbeitrag gedruckt erscheint. Die Analyse der vier Autorinnen liegt somit mindestens einige Monate zurück. Und in dieser – vergleichsweise – kurzen Zeit hat sich doch auch Erfreuliches getan. Gerade sind zwei Lehrbücher erschienen, in denen die Gesprächspsychotherapie in ihrem Kontext, Humanistische Psychotherapie, beachtenswert angemessen dargestellt wird. So enthält die neue Auflage  von Wittchen & Heuer „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ nun, 2021, unter der neuen Herausgeberschaft von Hoyer & Knappe ein bemerkenswert gut informierendes Kapitel „Humanistische und experientielle Psychotherapieverfahren“ (Autoren: Jens Gaab, Max Ziem und Christoph Flückiger). Und der ebenso aktuelle Band „Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren“ (Hrsg.: Strauß et al.) enthält gleichberechtigt für alle vier Grundorientierungen zentrale „Konzepte und Methoden“. Für die Humanistischen Psychotherapie“ sind es zehn Konzepte, wobei der Bereich des Personzentrierten Ansatzes dabei mit Finke (Verstehen), W. Keil (Kongruenz und Inkongruenz), S. Keil (das Selbst), Stumm (Erfahren und Erleben), Wiltschko (Fokusing) und mir selbst (Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierung) gut vertreten ist. 

Es geht also doch, dass die vier Grundorientierungen auch den deutschen Studierenden, Patient:innen und anderen Akteuren im Gesundheitsbereich angemessen vermittelt werden. Ob das  daran liegt, dass nun doch von einigen endlich die internationale Studienlage zur Kenntnis genommen wird – besonders die neuen Metastudien in  Bergin & Garfield (vgl. Nach – Gedacht in Ausgabe 1/2021 dieser Zeitschrift) – oder an der Tatsache, dass im Themenkatalog zur Approbationsprüfung des „Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP)“ die Gesprächspsycho­therapie angemessen vertreten ist (zumindest für „Erwachsene“), oder ob doch eine Rückbesinnung auf die Wichtigkeit wissenschaftlicher Kriterien neben berufspolitischen Ränkespielen erfolgt: Das lassen wir dahingestellt und freuen uns einfach über etwas Licht nach so viel Schatten.