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Therapeutische Apartheid

Kommentar von Jürgen Kriz
Eines der aus meiner Sicht bedeutenderen Jubiläen in 2013 war die Rede von Martin Luther King, die er vor 50 Jahren (am 28.8.1963) in Washington hielt. Rund 250.000 Menschen, die sich am Fuß des Lincoln Memorials versammelt hatten, rief er sein historisch gewordenes „I have a Dream“ zu. Eine Sprachwendung, mit der er wiederholt viele Passagen seine Rede einleitete.

In Kings „Traum“, ging es u.a. darum, dass Amerika einmal das „Versprechen der Demokratie verwirklichen“ werde, und dass seine vier Kinder „in einer Nation leben würden, in der man sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt". (1) King forderte u.a. Bürgerrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Job-Programme und bessere Löhne.

Ähnlich wie Gandhi rief King zwar stets zur Gewaltlosigkeit auf. Das bewahrte ihn freilich nicht davor, vom FBI-Chef J. Edgar Hoover in einem Memorandum als „der gefährlichste und effektivste schwarze Führer“ gebrandmarkt zu werden. Er und viele befreundete Bürgerrechtler wurden überwacht und ihre Telefone angezapft (eine Praxis, die uns 2013 erneut beschäftigt).

Auch wenn King 1968 von einem weißen Rassisten ermordet wurde, 2013 die Chancen für Farbige und Weiße immer noch keineswegs gleich sind, und erst kürzlich (Juli 2013) ein Mitglied der selbsternannten „Bürgerwehr“, das einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschoss, freigesprochen wurde (was erneut Unruhen und Rassismus-Debatten auslöste): Kings Rede von 1963 hat die USA verändert. Bereits 1964 wurde unter L. B. Johnson ein weitreichendes Bürgerrechtsgesetz verabschiedet, das die Apartheid in den Südstaaten zumindest offiziell beendete und das Wahlrecht für alle Bevölkerungsgruppen einführte.

Selbst in Südafrika ist ja bekanntlich die Apartheid längst überwunden. Obwohl diese erst 1948 gesetzlich eingeführt worden war – frei assoziativ könnte man hinzufügen: 50 Jahre vor dem deutschen Psychotherapeutengesetz.

Wie weit solche Assoziation rein willkürlich ist, mag den Lesern überlassen bleiben. Immerhin aber wird „Apartheid“ vor allem durch die autoritäre, selbsterklärte Vorherrschaft einer bestimmten Bevölkerungsgruppe über alle anderen gekennzeichnet. In Südafrika wurden z.B. die Schwarzen von der selbstbestimmten politischen Teilhabe und hohen Positionen in der Wirtschaft ausgeschlossen. Es lohnt sich, z.B. in Wikipedia den Beitrag über Apartheid zu lesen – über ihre Entstehung, ihre Auswirkungen aber auch deren Unterstützung durch deutsche Konzerne und Politiker sowie deren „wissenschaftlich begründete“ positive Haltung zur Apartheid.

Da fällt es mir schwer, Assoziationen zu unterdrücken, dass in dem durch Richt­linien-Verfahren geordneten Gesundheitsbereich in Deutschland zwei Ansätze die Vorherrschaft über alle anderen selbst erklärt haben. Und da sie die Entscheidungsgremien monopolisieren, diese Vorherrschaft auch aufrechterhalten. Andere Ansätze, deren Teilhabe an der psychotherapeutischen ambulanten Versorgung vor 1998 ebenso erheblich wie wirksam und nützlich war, wurden ausgeschlossen. Und auch dies wurde und wird – entgegen den Ergebnissen international anerkannter Studien und Metastudien – „wissenschaftlich begründet.“

Da wir nirgends sonst auf der Welt ein so abgeschottetes Richtlinienverfahren-System finden, mit dem alle anderen Ansätze in deutscher Perfektion ausgeschlossen werden, kann man schon auf den Gedanken kommen, von einer psychotherapeutischen Apartheid in der BRD zu sprechen. Nicht bestimmte Rassen, aber bestimmte Ideologien beanspruchen hier die alleinige Macht und das Wahrheitsmonopol.
50 Jahre nach Martin Luther Kings Rede mag es erlaubt sein davon zu träumen, dass endlich auch in der BRD gleiche Bewertungschancen für alle Therapieansätze geschaffen werden. Analog zu Kings Forderung sollten Wirksamkeit, Nutzen und Passung für die Anwendung eines Ansatzes entscheidend sein – und nicht, wie gut er in die abgeschotteten begrifflichen Richtlinien-Schubladen passt, welche die deutsche katasteramtliche Akribie auszeichnet.

In Heft 4 (2013) von Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie (Schattauer) (2) hat Jochen Eckert unter dem Titel „Machtmissbrauch in den Psychotherapiewissenschaften“ nochmals resümierend aufgezeigt, „welche Mittel und Wege eingesetzt werden, diesen Monopolisierungsprozess voranzutreiben“. Er zeigt an Beispielen, wie über manipulative Studiendesigns, Vorurteilspflege, Verhinderung von Forschung etc. die vermeintliche Überlegenheit eines Richtlinienverfahrens „wissenschaftlich belegt“ wird. Wie wohl auch die Rassenapartheid für etliche Weiße in Südafrika ein Gräuel war, darf man annehmen, dass es auch seriöse Vertreter der Richtlinienverfahren gibt, die an solch unredlichen Vorgehensweisen keinen Gefallen finden. Tatsache aber ist, dass der Ausschluss humanistischer und systemischer Ansätze in der BRD seit 15 Jahren andauert und die therapeutische Apartheid sowie deren „wissenschaftliche“ Verbrämung von der schweigenden Mehrheit toleriert wird.

Ich träume davon, dass auch in Deutschland die vier Grundorientierungen – psychodynamisch, behavioral, systemisch und humanistisch – auf Augenhöhe wissenschaftliche wie praxisorientierte Fachdiskurse führen und gemeinsam zum Fortschritt der Psychotherapie beitragen dürfen.

Ich träume davon, dass die gute Idee der Evidenzbasierung (EbM) so, wie sie von deren Begründern gemeint ist, umgesetzt wird und alles verfügbare Wissen genutzt und in den Dienst der Behandlung gestellt werden darf. Und dass nicht stattdessen EbM zu etwas pervertiert wird, was einen Deckmantel zur weiteren Ausgrenzung abgibt.

Ich träume davon, dass therapeutischer so wie rassistischer Apartheid ihre pseudowissenschaftliche Rechtfertigung endlich entzogen wird.


(1) Vgl.: http://www.ekd.de/aktuell/89012.html 
(2) erscheint Ende 2013 / Anfang 2014
 
GwG-Blogger Prof.Dr.Jürgen Kriz:
Vorwiegend habe ich in den letzten Jahrzehnten wissenschaftliche Texte zu Fragen von Psychotherapie, Beratung und Coaching verfasst -  allerdings auch mit vielen Beiträgen zur Methodik von Forschung in diesen Bereichen, da gerade in Deutschland im Hinblick auf diese Fragen ein sehr verengtes, reduziertes und missverstandenes Bild von „Wissenschaftlichkeit“ vorherrscht.

Als Ausgleich für die hoch disziplinierten wissenschaftlichen und fachlichen Artikel habe ich immer schon dann und wann Satiren und kleine Geschichten verfasst (die bisweilen sogar in „pardon“ oder „scheidewege“ erschienen sind). Seit vielen Jahren schreibe ich für die GwG-Zeitschrift ein „Nachgedacht“, in dem ich aktuelle Themen und Trends in Gesellschaft und Wissenschaft aus der Sicht Humanistischer Psychotherapie hinterfrage.

Ich liebe ungewöhnliche Blickwinkel. Denn nur durch die Vielfalt der Perspektiven können die meist sehr komplexen Erfahrungsgegenstände etwas weniger reduziert und verzerrend erfasst und dargestellt werden.
Website: www.jkriz.de