Vom Bewerten und Wertschätzen
Bewerten ist ein ganz natürlicher Vorgang. Bewertungen ermöglichen uns Orientierung in einer ansonsten unübersichtlichen Welt, sie ermöglichen uns, in komplexen und dynamischen Situationen rasch zu reagieren. Angenehm oder unangenehm, verlockend oder bedrohlich? Eine erste Abschätzung findet noch vorbewusst auf organismischer Ebene statt.
Neuere neurobiologische Forschung legt nahe, dass unser Gehirn eine Art inneres Modell der Welt unterhält, das auf Erfahrung und gelerntem Wissen beruht. Anhand dieses Modells bildet das Gehirn Hypothesen, um eingehende Sinnesdaten vorherzusagen. Abweichungen von diesen Hypothesen werden genutzt, um das innere Modell der Welt ständig zu aktualisieren und zu verbessern. Die besten Vorhersagen sind dabei jene, die mit größter Wahrscheinlichkeit zutreffen. Nach dieser Theorie ist Wahrnehmung kein passiver, sondern ein aktiver, konstruktiver Prozess bei dem Überzeugungen herausgebildet werden, die dazu dienen, Ordnung und Struktur in unzuverlässige Daten zu bringen. Ganz so rational und nur am Kriterium der Wahrscheinlichkeit orientiert, läuft der Vorhersageprozess aber nicht ab. Da es darum geht, das Überleben und die Reproduktion zu sichern, spielen auch andere Aspekte eine Rolle. Zum Beispiel die Frage, wie groß der Schaden wäre, wenn die Vorhersage falsch ist, oder ob sie im gegebenen sozialen Kontext funktioniert. Unsere jeweils individuelle, subjektive Beurteilung beeinflusst also die Genauigkeit von Vorhersagen. Unsere Überzeugungen sind daher keineswegs immer rational, sondern individuell funktional. Dies wissend, tun wir gut daran, unsere Überzeugungen und Bewertungen immer wieder zu hinterfragen, denn nicht nur Erkenntnisprozesse sind mit Unsicherheit behaftet, sondern auch die Realität um uns herum verändert sich.
Carl Rogers spricht von Bedingungsfreier Positiver Beachtung („unconditional positive regard“) als einer der sechs notwendigen und hinreichenden Bedingungen für konstruktive therapeutische Veränderung. Er erwartet also, dass wir als Therapeut:innen und Berater:innen unsere Bewertungen, Überzeugungen und Wahrnehmungsfilter so gut als möglich zu Seite stellen und uns mit „fresh und unfrightened eyes“ auf alles, was die Klient:in äußert, gleichermaßen beziehen, d. h. auch „at elements of which he oder she is fearful“ (Rogers, 1975). Das entspricht einer „grundsätzlich phänomenologisch orientierten Sichtweise von im Prinzip prozesshaften, reversiblen psychischen Abläufen wie Wahrnehmung, Fühlen, Denken (…), die sich noch im Vorfeld sozialer Konsequenzen bewegen und damit im Prinzip außerhalb normativer, moralischer Bewertungen stehen“ (Binder, 1994/99, S. 12)
Klient:innen, die sich auf diese Weise wahrgenommen erleben, fühlen dies als Wertgeschätzt-Werden. Reagieren sie darauf mit verstärkter Selbstöffnung, so wird auch die Therapeut:in Wertschätzung fühlen. Vertieftes Verstehen geht damit Hand in Hand.
Nicht gemeint mit „unconditional positive regard“ ist eine gleichbleibend freundlich-bemühte Haltung unabhängig davon, ob die Therapeut:in ihre Klient:in versteht oder nicht. Und „positive“ heißt in diesem Zusammenhang erst mal nicht mehr als „vorhanden“. Wenn die Therapeut:in merkt, dass ihr Gefühl von Wertschätzung sinkt oder sich nicht einstellen will, so ist das ein wichtiger Indikator für das Noch-nicht verstanden-Haben oder für eigene Inkongruenz. Mit dem phänomenologisch orientierten Blick und dem sich im Prozess einstellenden Gefühl von Wertschätzung haben wir also ein wichtiges Instrument in der Entwicklung empathischen Verstehens.
Ich halte es daher für wenig zielführend, den – inzwischen in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen inflationär gewordenen – Begriff „Wertschätzung“ als deutsche Entsprechung von „unconditional positive regard“ zu verwenden. Wertschätzung ist die affektive Seite der Bedingungsfreien Positiven Beachtung und stellt sich im Prozess ein, sie ist nichts Statisches, keine Haltung, die mir, sobald ich sie einmal erworben habe, überdauernd zur Verfügung steht.
Leichtfertig und verkürzt benutzt, dient der Begriff der Wertschätzung sonst nur als Zuckerguss auf mehr oder weniger desinteressierten Botschaften, um Machtverhältnisse zu verschleiern oder um sich vor befürchteten Konflikten oder klaren Worten zu drücken, für die jemand einstehen müsste. Denn wenn es beispielsweise darum geht, eine Leistung zu beurteilen, dann erfordert es Ehrlichkeit und sorgfältige Differenzierung, um an der Sache ausgerichtete Kritik zu formulieren, aus der die betroffene Person etwas ziehen kann, um sich zu verbessern und weiterzuentwickeln. Auch wenn es für sie im ersten Moment möglicherweise hart sei mag – sie erlebt sich als ernst genommen und damit wertgeschätzt.
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1. Vgl. Sterzer, P. (2022). Die Illusion der Vernunft. Berlin: Ullstein
2. Rogers, C. R. (1975). Empathic: An unappreciated way of being. The Counseling Psychologist, 5(2), 2–10
3. Binder, U. (1994). Empathieentwicklung und Pathogenese in klientenzentrierten Psychotherapie. Überlegungen zu einem systemimmanenten Konzept. Dietmar Klotz. 2. Aufl. 1999
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