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Von grünen Männchen und „dem Mörder in uns“

Auf youtube erzählt der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther im Rahmen eines Symposiums von DenkwerkZukunft von einer wissenschaftlichen Untersuchung mit unter sechs Monaten alten Babys. Den Babys wurden hintereinander drei Animationen gezeigt. Erste Animation, ein gelbes Männchen krabbelt mühsam einen Berg hinauf. Zweite Animation, das gelbe Männchen krabbelt einen Berg hinauf, hinter ihm ein grünes Männchen, dass es immer wieder anschiebt, ihm hilft. Dritte Animation, dass gelbe Männchen krabbelt den Berg hoch und oben wartet ein blaues Männchen. Als das gelbe Männchen oben ist, schubst das blaue es wieder hinunter. Ende der Darbietung. Anschließend wurden den Babys jeweils das grüne und das blaue Männchen als Figuren vor die Nase gestellt. Alle Babys griffen nach dem grünen Männchen, dem Unterstützer – keines nach dem blauen. Der Versuch wurde x-mal wiederholt. Immer mit demselben Ergebnis. Bei dem gleichen Versuch mit denselben nun Einjährigen griffen rund 10 – 20 % nach dem blauen Männchen. Hüther spricht hier von erlerntem Verhalten. Kein Mensch, so Hüther,  komme als brutaler, rücksichtsloser Egozentriker zur Welt. Der Beitrag ist bei youtube unter dem Titel „Glücksgefühle“ zu finden.

Die Grüne-Männchen-Wahl der Babys passt für mich zu Rogers These, dass „der innerste Kern der menschlichen Natur (…) positiv – von Grund aus sozial, vorwärtsgerichtet, rational  und realistisch“ (Rogers, S. 193) sei. Da sich die ursprüngliche Natur des Menschen nicht wirklich beweisen lässt, stellt sich für mich die Frage, woran will ich mich orientieren oder was will ich glauben?  Auch das ist ja keine einfache Sache. Für Rogers galt „die meisten von uns begegnen (… ) der Erfahrung mit einer vorgegebenen Struktur und Bewertung, auf die wir nie verzichten; wir zwängen und verdrehen eher die Erfahrung, damit sie unseren Vorurteilen entspricht...“ (Rogers, S. 188) . Mein Vor-Urteil in diesem Fall wäre also klar: der Mensch ist an sich gut. Und deshalb passt das geschilderte Experiment  auch gut in meine Schubladen: Wir werden „gut“ im Sinne von „sozial veranlagt“ geboren. Alles, was dann folgt, kann die Sache natürlich verderben – oder auch nicht. Und woran ich noch glaube ist dies, wenn eine Sozialisation oder Biografie richtig schief läuft, muss trotzdem noch nicht alles zu spät sein. Wir können auch dann noch werden, „wer wir wirklich sind“ oder uns dem zumindest annähern.

Ein prominentes Beispiel, dass mir sofort einfällt, ist Claude AnShin Thomas. Er hat als Fast-noch-ein-Kind-Soldat (siebzehnjährig) im Vietnam-Krieg hunderte von Menschen getötet. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Viele Jahre danach hat er einen Wandlungsprozess durchlaufen, vom „Massenmörder“ zum  Zen-Mönch. AnShin zieht seitdem gegen Krieg und für Gewaltlosigkeit predigend durch die Welt. Ob sein Töten durch den Soldat-im-Krieg-Status „legitimiert“ war – er  hat „zahlreiche Orden“ (Thomas, S. 13) dafür bekommen – hat rein gar nichts daran geändert, dass sein furchtbares Tun auch ihn, den Täter, Zeit seines Lebens quält.

Eine aktuell publizierte Hypothese im Magazin ZEITWISSEN behauptet nun, dass „Widerwillen gegen Gewalt nur dort entsteht, wo sie bestraft wird“ -  und dass der Mensch, ganz besonders der testosterongesteuerte männliche Mensch, Lust an der Gewalt habe. So beschreibt es der Psychologe Thomas Elbert in ZEITWISSEN („Der Mörder in uns“, Nr. 2, 2013, S. 70 f), während „die Mehrheit seiner Kollegen sagt, dass der Gebrauch von Gewalt etwas ist, das von Tätern gelernt wurde, um eine bestimmtes Interesse durchzusetzen“. Ganz besonders hat mich dieser Satz von Elbert irritiert: „Wir müssen Wege finden, das Bedürfnis nach Gewalt besser zu integrieren.“ Unter anderem in Schulen. Das müsse in „Bahnen gelenkt, statt tabuisiert zu werden.“ Das Bedürfnis nach Gewalt integrieren? Ich frage mich, ob man überhaupt so herum anfangen sollte?

Wenn Rogers schreibt, dass die Grundnatur des sich frei vollziehenden menschlichen Seins konstruktiv und vertrauenswürdig sei, sagt er dass mit der Kenntnis von mehr als einem „Vierteljahrhundert Erfahrung in der Psychotherapie“.  Aus diesem Grunde habe er er auch „wenig für die weit verbreitete Vorstellung übrig , dass der Mensch im Grunde irrational sei und daß seine Triebe auf Zerstörung seiner selbst und anderer angelegt sind, wenn sie nicht kontrolliert werden“ (Rogers, S. 194), was ja Elbert behauptet.

Man muss sich demnach doch unbedingt die Frage stellen, wie kommt es dazu, dass Menschen in Gewaltexzesse geraten? Und was kann diese Exzesse verhindern? Es ist für mich einfach falsch herum angefangen, dem Gedanken zu folgen, „Gewalt besser zu integrieren“. Es muss erst einmal das Gegenteil Platz in den Köpfen und im Handeln finden, nämlich „gewaltfreie“ Kommunikation als Möglichkeit – die bisher in Schulen zum Beispiel noch immer keine angemessene Aufmerksamkeit findet.  Gerade diesem Ansatz der „Gewaltfreien Kommunikation“ (Marshall B. Rosenberg)  sollte zuerst einmal Tür und Tor geöffnet werden. Den Fokus auf das Bedürfnis nach Gewalt zu richten, ist für mich also ein Start vom falschen Feld – und weniger eine Frage von „Tabuisierung“.  Denn  eine solche Formulierung richtet den Fokus auf die Eskalation und nicht auf das Davor und welche Dinge getan werden können, damit es gar nicht erst so weit kommt.  Das „Bedürfnis nach Gewalt“ ist eine hypothetische Zuschreibung von Elbert. Sie kann nicht einfach in die Welt hinein gesagt werden, ohne im gleichen Atemzug zu betonten, dass es selbstverständlich oder natürlich immer Umstände gibt, die soziale Destruktivität in alle denkbaren Richtungen bewirken kann. Wenn Gewalt bei einer Person, die ja ein Individuum ist und also keinem anderen so einfach gleicht, ein  „Bedürfnis“ geworden ist, dann liegt dem eine massive Inkongruenz zugrunde, die eben keine Naturerscheinung ist, sondern eine Vorgeschichte hat.

Elbert geht aber noch weiter. Er spricht von  „Lust an der Gewalt“ oder davon „dass der Mensch im Grunde seines Wesens Freude am Töten“ habe,  ganz so, als wäre das etwas „natürliches“ oder „normales“. Bei den persönlichen „Erfahrungen“, die Elbert zu diesen Schlüssen bewegt haben, unter anderem der Kontakt mit Tätern des Massakers von Ruanda, von Burundi oder dem Kongo, ist in dem Beitrag kein Worte darüber zu finden, welche Entwicklung von frühster Kindheit an jeder einzelne dieser Täter wohl vollzogen hat. Welchen Einfluss hatte sein familiäres, persönliches, gesellschaftliches, politisches oder eben soziales Umfeld auf den jeweiligen Täter? Wer war dieser Mensch, bevor er das erste Mal einen Gewaltexzess erlebt hat? Wie viel angstorientierter Machtinstinkt kam da zum Ausdruck? Warum ist da keine Empathiefähigkeit mehr, wenn jemand reglos am Boden liegt und ich trete noch mal und noch mal zu? Aus „Lust“ an der Gewalt? Morden aus „schierer entfesselter Lust“?

Ohne eine ganz bestimmte destruktive Sozialisation durchlaufen zu haben, wird ein Mensch keine Lust dabei empfinden, andere Menschen zu foltern, zu misshandeln, zu Tode zu quälen. Die „Haupttriebfeder des Lebens“ ist eben nicht der Drang zu zerstören, sondern sein Gegenteil. Es ist jener Drang, so Rogers, „der sich in allem organischem und menschlichen Leben zeigt: sich auszuweiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen“. Auch wenn diese Tendenz „ tief vergraben sein kann unter Schichten verkrusteter psychischer Abwehrmechanismen“.  Dass diese Tendenz „in jedem einzelnen existiert“ ist ein Ergebnis aus der Forschungsarbeit der humanistischen Psychologie, die sich bereits seit mehr als einem halben Jahrhunderts mit dieser Frage beschäftigt. In dem ZEITWISSEN-Artikel zu Elberts bisher noch völlig unbewiesenen Thesen findet sich kein einziges Wort zu belastbaren Forschungsergebnissen.

Über die „Bestie Mensch“ hat Rogers in „Entwicklung der Persönlichkeit“ (Rogers, S.178) geschrieben, dass sie von fast jedem Klienten, als etwas in ihm Vorhandenes gefürchtet werde, „sobald er sich in das Erfahren der unbekannten Aspekte seines Seins einlässt. Der ganze Verlauf seiner Erfahrung in der Therapie widerspricht jedoch diesen Befürchtungen. Er entdeckt allmählich, dass sein Ärger sein kann (…), seine Furcht sein kann (…), sein Selbstmitleid sein kann“ und es nicht destruktiv sei, ihn nicht in Auflösung versetzte und feindliche Gefühle sein können, ohne „dass der Himmel einstürzt“. Je mehr der Klient diese Gefühle in sich zulassen kann, „fließen lassen kann“, entdeckt er, dass er (auch) „andere Gefühle besitzt, mit denen diese sich mischen und eine Balance finden“. Wenn der Mensch aufnahmebereit und eng verbunden mit der Komplexität seiner Gefühle lebt, „bewegen sich seine Gefühle in einer konstruktiven Harmonie, anstatt ihn auf irgendein unkontrollierten Weg des Bösen fortzureißen“.


Quellen

ELBERT, THOMAS (2013): Der Mörder in uns. In: ZEITWISSEN, Nr. 2, 2013, S. 70-74. Hamburg, Zeitverlag.
(Prof. Dr. Thomas Elbert, Universität Konstanz, Klinische Psychologie und Neuropsychologie)

HÜTHER; GERALD (2011): Könnten wir anders sein? ist eine mentale Umprägung möglich? In: Videodokumentation der 2. Konferenz des Symposiums DenkwerkZukunft , Berlin, 15.01.2011. Abrufbar bei Youtube unter http://www.youtube.com/watch?v=MrYcRzN91eE mit dem Titel "Glücksgefühle".
(Prof. Dr. Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg)

ROGERS, Carl R. (2006/1961): Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. 16. Auflage, S. 193 f sowie S. 177 f. Stuttgart, Klett-Cotta Verlag

THOMAS, CLAUDE ANSHIN (2008/2003): Am Tor zur Hölle. Der Weg eines Soldaten zum zum Zen-Mönch. Stuttgart, Theseus-Verlag.


GwG-Bloggerin Christa Kosmala:
Im Zweifel Rogers
Ich lebe in Köln und arbeite freiberuflich als psycho-soziale Beraterin, Kommunikationstrainerin und Autorin. In meinem ersten Leben war "Suchen" das Thema, im zweiten Leben ging es schon mehr in Richtung "Finden". Also habe ich Artikel veröffentlicht, Geisteswissenschaften studiert (Philosophie und Literaturwissenschaft als Lieblingsfächer), Drehbücher, Reden und Vorträge (für andere) geschrieben. Und jetzt, im dritten Leben, herrscht ein stetiger Wandel zwischen "Suchen, Finden und Ankommen". Mein Schwerpunkthema ist (menschliche) Kommunikation. Nachdem ich vor einigen Jahren die Bücher von Rogers kennengelernt habe und so den "Personzentrieren Ansatz", habe ich den nebenberuflichen Masterstudiengang zum "Personzentrierten Berater" angehängt. Jetzt bin ich im letzten Semester. Und meistens liebe ich, was ich tue. 

Website: www.meinekarriere-meinweg.de