Was heilt, ist nicht Stahl
Es hätte anders sein können.
Nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust formte sich eine deutsche Verantwortung, die in Verträge gegossen wurde, in Staatsbesuche, in Waffenlieferungen und politische Loyalitäten. Der Satz „Nie wieder“ wurde zur Maxime – dabei war er immer unvollständig.
Was hätte geschehen können, wenn Deutschland im Zuge der historischen Schuld und der damit einhergehenden Reparationen nicht nur an Sicherheit, sondern auch an Heilung gedacht hätte? Wenn es das jüdische Volk nicht militärisch, sondern seelisch unterstützt hätte – im Bewusstsein, dass die eigentliche Vernichtung nicht nur physisch war, sondern psychisch?
Heilung ist kein politisches Programm. Aber sie hätte vielleicht eine ethische Antwort sein können – in einer Sprache, die nicht mit Waffen operiert, sondern mit Beziehung. Carl Rogers, Begründer der personzentrierten Psychotherapie, hätte diesen Gedanken verstanden – oder mehr noch: verkörpert. In seiner Haltung – geprägt von Empathie, Echtheit und bedingungsloser Wertschätzung – lebte das, was Politik nicht kann: ein echtes Gegenüber sein.
Zuhören, ohne zu verurteilen.
Verstehen, ohne zu rechtfertigen.
Heilung ermöglichen, ohne zu besitzen.
Rogers glaubte an die Kraft der Begegnung – selbst dort, wo jahrzehntelanger Hass wie Blei auf dem Gespräch lastete. Als er in den 1980er-Jahren mit verfeindeten Gruppen in Nordirland arbeitete, brachte er keine Lösungen – er brachte Beziehung. Und manchmal war das genug.
Die Shoah hat nicht nur Körper ausgelöscht. Sie hat Seelen verstört. Und sie hat Spuren hinterlassen, die bis heute weitergegeben werden. Transgenerationale Traumata – vererbt wie Narben, die nicht verblassen. Aus dem Unaussprechlichen wurde ein inneres Programm: Vertraue niemandem. Schütze dich. Überlebe. Auch in Israel selbst sind die Schatten der Shoah lange nicht verblasst. Sie haben sich nicht nur in Gedenktafeln eingeschrieben, sondern in Biografien, in Körper, in politische Reflexe. Viele, die heute entscheiden, tragen Fragmente einer Angst in sich, die nicht selbst erlebt, aber tief vererbt wurde: die Angst, wieder wehrlos zu sein.
Es ist ein kollektiver Überlebensmodus, geboren aus Vernichtung – und gespeist aus dem Entsetzen, das ein ganzes Volk in die Unsicherheit der Existenz zurückwarf. Wer über israelische Politik urteilt, ohne diesen Resonanzraum zu kennen, sieht nur das Handeln – nicht den Abgrund, aus dem es manchmal kommt.
Doch auch dieser Abgrund darf niemals zum Freibrief werden. Verständnis ist keine Entschuldigung. Wer aufhört, zwischen Angst und Aggression zu unterscheiden, verliert nicht nur den Feind aus den Augen – sondern sich selbst. Und wie oft in der Geschichte hat sich gezeigt: Unverarbeitete Ohnmacht verschwindet nicht, sie verwandelt sich – in Kontrolle, in Machtwille, in Gewalt. Wer nicht gehört wurde, beginnt zu schreien. Wer schutzlos war, wird unnachgiebig. Und manchmal, in einer grausamen Umkehrung, wird das einstige Opfer zum Täter.
Was wir gegenwärtig in Gaza sehen – die beispiellose Zerstörung, das kollektive Strafen, das Entziehen von Wasser, Strom, Leben – von vielen Stimmen weltweit bereits als Genozid am palästinensischen Volk bezeichnet – ist nicht loszulösen von der Geschichte. Es ist nicht entschuldbar. Aber erklärbar, vielleicht. In der Radikalität, nie wieder Opfer zu werden, liegt die Versuchung, alles Menschliche preiszugeben. So wird aus dem Satz „Nie wieder“ ein stilles „Nie wieder wir“ – nicht mehr getragen von Verbindung, sondern von Abgrenzung.
Aber Radikalität kennt keine Nuancen. Sie braucht Feinde, wo eigentlich Menschen sind. Wo kein Raum für Verwundbarkeit bleibt, entsteht Härte. Wo kein Zuhören möglich ist, bleibt nur Lautstärke. Wo das Trauma nicht gesehen wird, wiederholt es sich – unter umgekehrten Vorzeichen.
Im Denken von Primo Levi und Hannah Arendt findet sich eine leise Diagnose jener Nachwirkungen des Holocaust, die über Täter-Opfer-Kategorien hinausweisen. Die eigentliche Erschütterung liegt nicht allein in der Tat, sondern in ihrer Langzeitwirkung auf das moralische Koordinatensystem. Nicht der Tod war das letzte Wort, sondern die nachhaltige Infragestellung des Guten.
Die Erfahrung des Grauens zwang dazu, Menschlichkeit im Spiegel der Unmenschlichkeit zu verhandeln – und genau darin liegt ein tiefer Bruch. Denn Menschlichkeit ist nicht verhandelbar. Sobald sie sich auf Bedingungen einlässt, verliert sie ihre Substanz. Sie ist kein Kompromiss, keine Reaktion, keine Taktik – sondern eine unteilbare Haltung. In sich absolut, nicht als Gegensatz zum Bösen definiert, sondern als Bedingung der Würde selbst. Dass sie ins Zwielicht geriet, war nicht nur Folge – sondern vielleicht die bitterste Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus. Die deutsche Verantwortung hätte hier ansetzen können. Nicht bei Waffen, nicht bei Raketenabwehrsystemen, nicht im Aufgehen in Schuld. Sondern in der Übernahme echter Verantwortung und in dem Versprechen: Wir sehen euch. Wir hören euch. Wir stehen an eurer Seite – nicht nur als Staatswesen, sondern als Menschen.
Aber Verantwortung übernehmen heißt nicht Gefolgschaft leisten. Wer nie „Nein“ sagt, meint sein „Ja“ nicht mehr. Aus Schuld erwächst manchmal ein Schweigen, das sich für Loyalität hält. Doch Freundschaft, die nicht widerspricht, ist keine. Wer einem Freund nicht widersprechen kann, hat ihn verloren. Nicht durch Ablehnung, sondern durch Anpassung.
Denn Schuld ist rückwärtsgerichtet. Sie blickt zurück, bindet, lähmt, macht klein. Verantwortung hingegen zielt nach vorn. Sie ist nicht das Eingeständnis der Ohnmacht, sondern der Entschluss zur Beziehung. Wer Verantwortung übernimmt, flieht nicht in die Selbstanklage, sondern tritt in einen Raum, in dem Antwort möglich wird – nicht als Reaktion auf Schuld, sondern als Angebot an den Anderen. Verantwortung ist dialogisch. Sie stellt keine Rechnung – sie bietet Resonanz.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit fehlten der Welt nicht nur Mittel, sondern auch Begriffe für das, was geschehen war. Die moderne Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, existierte nicht. Erst mit der Entwicklung humanistischer Ansätze – allen voran dem personzentrierten Ansatz nach Carl Rogers in den 1960er bis 1980er Jahren – wurde eine Sprache für seelische Heilung zugänglich, die nicht pathologisierte, sondern begegnete. Spätestens von da an hätte man beginnen können, Reparationsleistungen auch als psychologische Verantwortung zu denken. Nicht nur in Form von Entschädigung, sondern in Form von Nähe, von Haltung, von seelischer Versorgung – als Ausdruck einer Fürsorge, die mehr wollte als politische Loyalität: Beziehung.
Angebote der Psychotherapie hätten ein zärtlicher Akt der Reparation sein können. Milliarden für das Wiederaufbauen von Vertrauen. Für Räume, in denen jüdische Familien, Generationen nach dem Überleben, endlich wieder sprechen können. Nicht über Schuld. Sondern über Schmerz. Flächendeckende, kostenlose Angebote seelischer Versorgung basierend auf eben jener Haltung. Nicht als Wohltat, sondern als Menschenrecht.
Und heute? Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff von Verantwortung neu zu denken. Nicht als politische Loyalität, sondern als ethische Antwort auf Verwundung.
Carl Rogers war ein stiller Revolutionär. Einer, der nicht durch Ideologien erschütterte, sondern durch Zuhören. Der nicht an Systemen rüttelte, sondern an der inneren Haltung. In seinem Buch “Der neue Mensch” entwarf er ein Gesellschaftsbild, das wie eine Notiz aus einer besseren Zeit wirkt: eine Welt, in der Begegnung wichtiger ist als Bekenntnis, in der Vertrauen nicht verdient werden muss, sondern gewährt wird – eine Welt, die sich nicht durch Effizienz erhält, sondern durch Empathie wandelt.
Was Rogers beschreibt, ist keine Utopie im klassischen Sinn, sondern ein Möglichkeitsraum, der im Kleinen beginnt. In der Art, wie wir einander zuhören, ohne schon im Widerspruch zu denken. In der Art, wie wir Nähe zulassen, ohne Bedingungen zu stellen. Und vielleicht auch in der Art, wie wir Verantwortung denken: nicht als Pflicht zur Gefolgschaft, sondern als Bereitschaft zum menschlichen Risiko. Dass dieser Ansatz bis heute keinen Eingang in die therapeutischen Richtlinien gefunden hat, ist mehr als eine Verwaltungssache. Es ist ein Symptom. Denn das, was heilt, lässt sich nicht immer messen. Was trägt, ist nicht immer das, was sich zählen lässt. Es ist nicht aus Stahl, sondern aus dem Lebendigen – aus dem, was sich zeigt, wenn wir einander wirklich sehen.
Die Haltung, von der Rogers sprach, in der Größe, in der er sie dachte, ist nicht systemkonform. Aber sie ist dem Menschen zugewandt in ihrem tiefsten Anspruch. Diese Haltung sollte nicht nur in Therapieräumen weitergegeben werden, sondern in Schulen, in Familien, in politischen Gremien, in zwischenstaatlichen Beziehungen. Sie ist universell, weil sie nicht auf Antworten besteht, sondern auf das Verstehen. Weil sie nicht wissen will, wie man gewinnt, sondern wie man bleibt.
Sie ist vielleicht die letzte Ethik, die uns bleibt, wenn alle anderen versagen: die Ethik der unbedingten Menschlichkeit.
Es ist zu spät für das, was hätte sein können. Aber es ist nicht zu spät für das, was jetzt beginnen muss: eine neue Ethik des Zuhörens – als Weltinnenpolitik.
Nicht als Utopie.
Sondern als Notwendigkeit.
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