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Wir brauchen „neue und wirksamere Therapien“?

Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr. Na gut, „die Welt“ ist vielleicht zu viel gesagt. Genauer gesagt meine ich einen ganz konkreten Sachverhalt, der in einer Pressemeldung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde (1) - unter dem schönen Titel „Seelische Leiden besser verstehen“. Unter Federführung der zuständigen Ministerin Johanna Wanka werden 35 Millionen Euro für ein Forschungsprogramm zur Verfügung gestellt, das „neue und wirksamere Therapien“ erforschen soll. Nicht etwa nur im medikamentösen Bereich, sondern auch im Bereich psychotherapeutischer Verfahren! 

Man muss sich den Titel der Pressemeldung auf der Zunge zergehen lassen: „Seelische Leiden besser verstehen“. Das klingt als Überschrift einer Pressemeldung (2) nach Engagement, nach Bereitschaft, nach Verstehen wollen, nach Empathie – und es ist ohne Frage auch eine gute Sache, dass 35 Millionen in die Forschung gesteckt werden. Und eigentlich wäre das BMBF auf den ersten Blick damit auch gar nicht der (ganz) richtige Adressat für Kritik. Doch bei der Frage um „neue oder wirksamere Therapien“ muss zum einen zumindest mit der Kraft des geschriebenen Wortes das desaströse Anerkennungsverfahren zur Psychotherapie in Deutschland wieder und noch mal deutlich benannt werden. 

Zum anderen geht es hier aber nicht nur allein darum. Irgendetwas stört mich da noch besonders, löst Unbehagen aus, wenn solche Sätze zusammenkommen, wie „Seelische Leiden besser verstehen“ und „neue, wirksamere Therapien finden“. Aus der Lesart einer personzentrierten Perspektive – klingt es so nach „rückwärtsgewandt“, wozu da für 35 Millionen geforscht werden soll, nach einer „sich vom Menschen als Person“ wieder entfernenden Richtung, wieder hin oder zurück zum Menschen als einem Forschungs-“Gegenstand“. 

Wie komme ich darauf? Es klingt einfach danach, wenn es bei so viel Geld „nur“ um effizientere Medikamente bei Depression geht, „nur“ um bessere Diagnosen bei bipolaren Störungen, „nur“ um Wirksamkeitsfragen medikamentöser Prävention (im Vergleich mit psychotherapeutischen Verfahren) oder „nur“ um effizientere Zugangswege zum Gesundheitssystem bei Suchterkrankungen (und Weiteres in diese Richtung) (3). Es ist so weit weg von dem, wo die Forschung schon mal war: Seelische Leiden „besser verstehbar“ machen – aus der Perspektive des Klienten schauen. Weil der es genau und ganz genau sagen kann. Weil er, der Klient, der beste Experte für sein ganz eigenes Empfinden seiner „Krankheit“ oder seiner Depression ist und also auf Augenhöhe gesehen werden muss. Auch wenn es hundert Mal bei „allen“ Depressiven zum Beispiel ähnliche oder „gleiche“ Symptome gibt. Das kann man ja gar nicht bestreiten. Aber gerade das hilft doch auch gar nicht. Wer je depressiv war, weiß ganz genau, dass im Fokus stehen muss, dass man sich selbst am besten kennt. Und wenn das nicht wieder ernster genommen wird, dass es um eine hilfreiche und heilsame Beziehung zwischen Klient und Therapeut geht, wie in der Gesprächspsychotherapie / GPT an erster Stelle, nützen auch die besseren Medikamente nichts. Sie täuschen nur über die Zeit hinweg, die für den Leidenden – unverstanden – vergeht. 

Und bei dem Thema kommt mir sofort wieder in den Sinn, welcher Unsinn bisher da verzapft wurde in Sachen „Nicht-Anerkennung“ von GPT und anderen hochwirksamen humanistischen psychotherapeutischen Verfahren durch den gemeinsamen Bundesausschuss und über die letzten rund fünfzehn Jahre in Deutschland! Hierzulande sind gerade mal zwei beziehungsweise drei Psychotherapieverfahren das Nonplusultra und alle anderen Ansätze, „deren Teilhabe an der psychotherapeutischen ambulanten Versorgung vor 1998 ebenso erheblich wie wirksam und nützlich waren, wurden ausgeschlossen“ (4). Und das entgegen den Ergebnissen international anerkannter Studien und Metastudien. Weitere nützliche, hilfreiche, wirksame Verfahren sind also da, wissenschaftlich anerkannt, aber – eben nicht sozialrechtlich. Deshalb haben zum Beispiel die Gesprächspsychotherapeuten (GPT) gar kein Forscherteam ins Rennen schicken können im Wettbewerb um die Teilhabe an 35 Millionen Forschungsgeld. Weil sie systematisch rausgedrängt wurden aus dem Geschehen. Weil sie in Deutschland und an deutschen Universitäten in der Forschung keine Stimme mehr haben, kaum noch Präsenz zeigen können und also weit und breit fast nur noch Verhaltenstherapie, oder (inzwischen auch weitgehend aus psychologischen Studiengängen eliminiert) analytische und tiefenpsychologisch fundierte Verfahren in der universitären Ausbildung zu finden sind. 

Und in der Praxis? Gesprächspsychotherapie gibt es als Angebot offiziell gar nicht mehr für Kassenpatienten, nur noch für Selbstzahler. Ganz abgesehen davon, dass es überhaupt zu wenig Psychotherapeuten gibt, die praktizieren dürfen auf dem heiß umkämpften Markt der Gesundheitsindustrie. Allein deshalb schon klingt es komisch, wenn so viel Geld in die Forschung „neuer und wirksamerer Verfahren“ gesteckt wird, denn welcher Kassenpatient soll etwas davon haben, wenn die Türen vieler therapeutischer Praxen für sie bereits wegen „Überlastung“ monatelang verschlossen bleiben? Wartelisten von drei Monaten und mehr – übrigens auch bei Klinikplätzen – sind heute wie gestern eine Tatsache. So werden Kassenpatienten mit Therapiebedarf zusehends schon deshalb „kränker“, weil sie gar keine Therapie bekommen – und nicht etwa, weil es an wirksamen Verfahren fehlt. Denn wie gesagt, wirksame und sehr hilfreiche Verfahren, wie die GPT gibt es ja, nur sind sie vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nicht zugelassen worden. Man kann auch sagen, sie wurden geradezu eliminiert. Damit geht nun auch eine schier unglaubliche Ignoranz einher. Gerade was die Wünsche therapiebedürftiger Patienten betrifft, denn die personzentrierte Psychotherapie wird in vielen Ländern – und vor 1999 auch in Deutschland – von Patienten erheblich nachgefragt. Das sagt Prof. Dr. Kriz als einer von vielen international anerkannten und renommierten Fachleuten, die es wissen müssen. „Nirgends sonst auf der Welt“ gibt es ein so „abgeschottetes Richtlinienverfahren-System“, mit dem „alle anderen Ansätze in deutscher Perfektion ausgeschlossen werden“. Da könne man, so Kriz weiter, „schon auf den Gedanken kommen, von einer psychotherapeutischen Apartheid in der BRD zu sprechen“. (5) Und er wird noch deutlicher, denn nicht „bestimmte Rassen, aber bestimmte Ideologien“ beanspruchten hier „die alleinige Macht und das Wahrheitsmonopol“. Mit diesen Ideologien ist die erwähnte und selbsterklärte Vorherrschaft von zwei oder drei Ansätzen gemeint, die „die“ oder „das“ Entscheidungsgremium G-BA monopolisieren und so diese Vorherrschaft auch aufrechterhalten können. 

Was nun also die Kraft der Worte betrifft, richte ich diese einfach mal direkt an Frau Wanka. Denn es hilft ja auch nicht, wenn ich das nur im Blog sage oder nur zu mir selbst – oder etwa denke, das haben doch schon so viele andere anderswo gesagt. Es hilft erst dann und nur dann, wenn es auch gehört und verstanden wird. Denn wie sagte Rogers? Verstehen ist Veränderung. 

Sehr geehrte Frau Wanka,
vor Jahren war ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Fragestellung auf der Suche nach einem überzeugenden – im Sinne von wirksamen - psychosozialen Beratungskonzept.

Als besonders hilfreich und förderlich ist mir nun jener Ansatz begegnet, der auf das psychotherapeutische Heilverfahren der Gesprächspsychotherapie (GPT) zurückgeht. Das ist sozusagen die deutsche Begrifflichkeit. In anderen Ländern heißt diese Therapieform (eher früher) Klientenzentrierte Psychotherapie oder (eher heute) Personzentrierte Psychotherapie. Dieser Ansatz ist umfassend auch als „Personzentrierter Ansatz“ (PZA) bekannt, nach dem englischen Begriff „Person-Centered Approach“. Der Begründer des PZA, Carl R. Rogers, hat als erster Psychologischer Psychotherapeut und Wissenschaftler psychotherapeutische Gespräche auf Band aufgenommen und so erstmals ihre wissenschaftliche Untersuchung eingeleitet, also möglich gemacht. Es war ihm ein besonderes Anliegen, wissenschaftlich zu belegen, „ob“, „das“ und „wie“ Therapieverfahren wirken. Dafür bekam er bereits in den 1950er Jahren den höchstangesehenen Forschungspreis der „American Psychological Association (APA)“.

Inzwischen ist weit mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. In der Nachfolge Rogers haben sich viele andere Wissenschaftler mit der GPT oder dem PZA oder anderen humanistischen Therapieverfahren beschäftigt. Sie haben klinisch weiter geforscht, weiterentwickelt und Wirksamkeiten in zahlreichen Studien begründet und belegt. Die Reihe renommierter Publikationen dazu ist so unglaublich lang, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass das einfach so unter den Tisch fallen soll? Und hierbei denke ich ganz konkret an Ihren Satz, es sollen 35 Millionen Euro ausgegeben werden, auch für nicht-medizinische Forschung, um „neue und wirksamere Therapien“ zu erforschen? 

Da denke ich auch, ob Sie wohl die Debatte um die Frage von wissenschaftlich anerkannten Therapieverfahren kennen? Für die psychisch Erkrankten (mindestens 40% leiden „im Laufe Ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung“, wie Sie schreiben) wäre es ein Segen, wenn Sie die hochwirksamen Behandlungen, die es bereits gibt, überhaupt erst mal auch bekämen. Was hindert sie aber nun daran? Ganz sicher nicht die Tatsache, dass es keine Verfahren gibt, die wirklich helfen! 

Hinderlich ist ein bestimmter Lobbyismus einer Gesundheitsindustrie, die in der Psychotherapie – außer genau zwei bzw. drei Verfahren – alle anderen „ausgrenzt“. Und zwar darum, weil es klappt! Nur darum, weil das möglich ist – denn sachliche, fachliche Gründe sind da nicht haltbar. Dazu gibt es ebenfalls Regalmeter an Publikationen. Dazu gibt es auch klare Stellungnahmen aller Psychotherapeutenkammer der Länder sowie der Bundespsychotherapeutenkammern. Dazu gab es ferner eine „Erklärung deutscher Universitätsprofessorinnen und -professoren im Bereich Psychotherapie / Klinische Psychologie / Medizinische Psychologie“ aus dem Jahre 1998, die von 80 UniversitätsprofessorInnen unterzeichnet wurde. Das sind rund 90% (!!) der Professorenschaft in diesem Fachgebiet. Darin heißt es „Die Gesprächspsychotherapie gehört sowohl international als auch in Deutschland seit Jahrzehnten zu den praktizierten und bewährten Verfahren. Tausende von Patienten wurden mit Gesprächspsychotherapie erfolgreich ambulant bzw. stationär behandelt. In zahlreichen Lehrbüchern der Psychotherapie / Klinischen Psychologie wird dieses Verfahren als wissenschaftlich ausgewiesen und als effektiv dokumentiert. An vielen deutschen Universitäten gehört die Gesprächspsychotherapie sowohl zur Forschung als auch zur Lehre und somit zum Prüfungsstoff u.a. im Hauptdiplom in Psychologie. Wir halten es für nicht akzeptabel, wenn ein Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen sich durch Auslegung von Richtlinien über geltende Lehrmeinungen der Scientific Community hinwegsetzt.“

Nun, inzwischen hat sich dieser Ausschuss darüber hinweggesetzt. Heißt, selbst einhellige Fachurteile der Wissenschaftler in Deutschland haben gegen Lobbyismus offensichtlich keine Chance – wenn monopolisierte Entscheidungsgremien, wie der G-BA, das entscheidende Sagen haben dürfen? 

Sozialrechtliche Anerkennung heißt hier das Zauberwort, dass analytische, tiefenpsychologisch fundierte und verhaltenstherapeutische Therapieverfahren allein für sich in Anspruch nehmen dürfen – freilich erst seit 1999 und nur auf das Staatsgebiet der BRD beschränkt. Nirgendwo sonst in der Welt gibt es diese Ausgrenzung. Was sagt das eigentlich über alle anderen Wissenschaftler in der Welt? Sind sie „zu dumm“ oder gar verantwortungslos? Oder könnte es vielleicht doch an anderen Gründen liegen??

Wenn also die bisherige Entwicklung in Fragen sozialrechtlicher Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren sich den Vorwurf des Lobbyismus gefallen lassen muss – was bedeutet dann Ihr Vorstoß, Frau Wanka? Was bedeutet es, wenn Sie mit viel Geld ein „Forschungsnetz zu psychischen Erkrankungen“ initiieren und also zu Forschungen zu „neuen und wirksameren Verfahren“ auch in der nicht-medikamentösen Therapie mit aufrufen – was insgesamt und ohne Frage wohl eine wirklich gute Sache ist – aber zugleich ein Prozedere in Deutschland herrscht, das sehr wirksame wissenschaftlich anerkannte (humanistische) Therapieverfahren einfach ausgrenzen kann? Denn gerade das gesprächspsychotherapeutische Verfahren gilt nachgewiesener Maßen im Bereich von Depressionen, Angststörungen, Sucht oder Schizophrenie nach eindeutigen Studien als höchst wirksam. 

Stellen Sie sich nur einfach mal vor, was es bedeutet, als Kassenpatient eine Depression zu haben – und sich für eines von drei Verfahren entscheiden zu müssen, weil man nicht die Wahl hat, zum Beispiel ein (humanistisches) Verfahren wie die Gesprächspsychotherapie nutzen zu können. Obwohl hier – gerade auch bei Depression – unbestreitbare wirkliche Erfolge belegt sind, sich nachweisen lassen, mit relevanten Studien vorgestellt wurden, eine mehrere Jahrzehnte dauernde klinische Forschung zur Gesprächspsychotherapie und ihrer Wirksamkeit mehr als ausreichend dokumentiert ist. 
Vielleicht kann gerade Ihre Stimme, Ihr Engagement helfen, dass den Patienten dieses Verfahren, wie auch andere humanistische bereits wirksame, effektive Verfahren, nicht weiter vorenthalten werden können?

Ich vermute nun, Sie werden diesen Brief nicht einmal lesen. Sollte das aber doch passieren, möchte ich Sie ganz herzlich zum Gespräch einladen. Die Gelegenheit dazu wäre zum Beispiel der Kongress der Humanistischen Psychotherapeuten (AGHPT), der sich ganz dem Thema „Zeitkrankheit Depression“ widmet. Er findet vom 25.-28. September 2014 an der Freien Universität Berlin statt.

Ich weiß, das ist vermutlich eine utopische Vorstellung, dass Sie wirklich kommen wollten – aber was wäre die Kulturgeschichte ohne utopische Vorstellungen? 

Mit besten Grüßen
Christa Kosmala

1 www.bmbf.de/press/3572.php  
2 ebd. 
3 http://www.bmbf.de/pubRD/Uebersicht_Verbuende_neu.pdf 
4 Jürgen Kriz, 4.11.2013: http://www.gwg-ev.org/blog/therapeutische-apartheid 
5 ebd.
 
GwG-Bloggerin Christa Kosmala:
Im Zweifel Rogers
Ich lebe mit meiner Familie in Köln, arbeite als Psychosoziale Beraterin in Einzelarbeit (Erwachsene, Jugendliche, Eltern, Führungskräfte) oder mit Teams (berufliche Teams in Organisationen) oder mit Gruppen (Familien, themenzentrierte Gruppen). Ein weiterer theoretischer wie praktischer Schwerpunkt sind Unterrichte, Trainings oder Einzelcoaching in „Kommunikation, Gesprächsführung, Konfliktklärung“. Ich habe einen Masterabschluss (M.A.) in Personzentrierter Beratung (PZB) gemacht sowie diverse Fortbildungen im psychologischen, psychsozialen sowie körperorientierten Bereich (Gesundheitsprävention). Mein Erststudium in Geisteswissenschaften (M.A.) an der Uni Köln mit dem Schwerpunkt in "Sinn- u. Seinsfragen" ist bis heute eine fortwährend hilfreiche Quelle geblieben, um Menschen und ihre Lebensbewältigungsstrategien zu verstehen.
Website: www.meinekarriere-meinweg.de