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Wir sind nicht die Guten.

Wir sind nicht die Guten. Ein Essay zur psychotherapeutischen Vernunft. von Andrea Sacher

Neulich war es wieder da: das Unbehagen.

Morgens las ich in der Lokalpresse, dass die Zahl der depressiv Erkrankten in Deutschland wieder mal gestiegen sei. Besonders einige Regionen in NRW lagen deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Als Erklärung wurden die verschärften Arbeitsbedingungen genannt. Gleichzeitig wäre die Versorgung durch PsychotherapeutInnen nicht ausreichend gewährleistet. So weit, so schlecht.

Als PsychotherapeutInnen kennen wir dieses Gefühl, das ich mit "Unbehagen" bezeichne, sehr gut. Es heißt zunächst einmal: hier stimmt etwas nicht. Es ist gewissermaßen ein bedeutender Bestandteil unserer Arbeit, unserer Werkzeugkiste. Aber ich meine an dieser Stelle nicht das Gefühl in meiner Arbeit mit KlientInnen oder Gruppen, sondern ein Unbehagen mit meiner Rolle als Psychotherapeutin in dieser Gesellschaft (und damit klammere ich an dieser Stelle das Unbehagen in anderen Rollen wie z. B. Bürgerin, Konsumentin, etc. aus).

Ich erinnerte mich, dass es 2006 ein Symposium mit dem Titel „Das Unbehagen in der(Psychotherapie-) Kultur“ gab, das auch die GwG damals mit organisiert hatte. Ich freute mich damals (vor schon wieder 9 Jahren!), dass sich wieder einmal Menschen zusammenfinden und etwas artikulieren wollten, das auch meinem Empfinden entsprach. Aus persönlichen Gründen konnte ich aber damals nicht teilnehmen. Im Zentrum der Tagung stand der Austausch zwischen verschiedenen humanistischen, sinnverstehenden und ganzheitlichen Psychotherapierichtungen mit dem Ziel einer alternativen Positionsbestimmung gegen die Verengung des Denkens im Psychotherapie-Mainstream, besonders in Form der Durchsetzung einer evidenzbasierten Einheitspsychotherapie. Als Ergebnis der Tagung wurde die „Bonner Erklärung“ verabschiedet (s. Hein & Hentze, 2007).

So wandte ich mich mit der Frage an die GwG-Geschäftsstelle, was denn aus diesem "Unbehagen", dieser Initiative von 2006, geworden sei. Die Antwort bezog sich zunächst auf die Bemühungen der GwG und anderer humanistischer Verbände in der Berufspolitik. Auch wenn mir es weiterhin von Wichtigkeit erscheint, sich für die Verteidigung und Etablierung humanistischer Werte und Anliegen in der Psychotherapielandschaft zu streiten, mein "Unbehagen" bezog sich aber auf etwas anderes. Um dies etwas anschaulicher zu machen, möchte ich noch weitere Begebenheiten skizzieren, wann es zu bemerken war bzw. ist:

  • wenn sich Menschen bei der Anfrage nach Therapie schon am Telefon mit "ihrer Diagnose" vorstellen,
  • wenn von mir geschätzte KollegInnen erzählen, dass sie "schwierige Klienten" ablehnen, weil ihre Praxis überfüllt ist und sie sich gesundheitlich am Limit bewegen,
  • wenn auf Fortbildungen immer neue Therapieverfahren für neue Störungen angeboten werden, z. B. "Weisheitstherapie bei Verbitterungsstörung" und als die Kritik auf das DSM-V hier in Deutschland nur sehr verhalten ausfiel,
  • wenn Menschen menschliche Probleme haben, aber zu mir kommen, weil sie sich unsicher sind, ob sie "krank" seien oder als neulich eine 16-Jährige anrief und nach einer Paartherapie für sich und ihren Freund fragte,
  • wenn in der Presse PsychotherapeutInnen über Menschen, die an etwas Bestimmtem leiden (z. B. meinen, nicht gut genug auszusehen), die Aussage treffen, diese wüssten meist gar nicht, dass sie krank seien (in diesem Fall mit einer "Körperdysmorphen Störung"),
  • wenn fast alle in unserer Gesellschaft das Gefühl haben, sie müssten mehr für ihre Gesundheit tun und sie seien ja selbst schuld, dass es ihnen nicht gut ginge,
  • wenn in einer Fortbildung eine Sozialpädagogin und Hospizkoordinatorin eine Situation schildert, in der eine Angehörige zu weinen anfing und sie deshalb eine Psychologin zuziehen musste,
  • als letztes Jahr meine Mutter schwer an Krebs erkrankte, ein mir nahestehender Mensch plötzlich verstarb, ich wegen einer Blockade im Rücken schwere, anhaltende Schmerzen hatte und mir meine Hausärztin deshalb ein Antidepressivum anbot, weil ich "so gedrückt wirken" würde,
  • aber auch, wenn unsere Verteidigungsministerin für die Attraktivität der Arbeitsplätze in der Bundeswehr wirbt - psychologische Betreuung inklusive, während die Frauen und Männer der kurdischen Peshmerga - auch für uns - ihren Kopf hinhalten und das nicht nur im übertragenen Sinn,
  • und noch einmal an ganz anderer Stelle: wenn mir auf dem Flyer zum nächsten Jahreskongress eine junge, vitale, "reinweiße" Frau vor Himmels- und Meeresbläue entgegenspringt wie massenhaft und ikonengleich aus TV-Werbung, Apotheken Umschau, Krankenkassenblättchen, etc. - "ohne meinen alltours sage ich nichts".

Ich könnte diese Aufzählung noch weiter fortführen.

Dazu möchte ich ausdrücklich klarstellen, dass ich bei all diesen Beispielen in keinster Weise das Leid der Betroffenen in Frage stelle, noch die Bereitstellung einer Hilfeleistung für einen Leidenden in irgendeiner Weise anzweifle. Aber vielleicht ist dem einen oder anderen beim Lesen schon deutlich geworden, welches "Unbehagen" ich meine. Kennen Sie das auch? Wenn ja, dann ist das vielleicht der Anfang darüber ins Gespräch zu kommen.
Es geht mir dabei nicht um eine gesellschaftskritische Diskussion im engeren Sinne, d. h. um das Aufgreifen gesellschaftspolitischer Problemfelder wie z. B. Arbeitsbedingungen oder Flüchtlingsproblematik und wie oben schon erwähnt auch nicht um berufspolitische Anliegen. Das heißt nicht, dass ich all diese Bemühungen an ihrer Stelle nicht als gut oder richtig bewerten würde, im Gegenteil. Mir geht es um eine Kritik am psychotherapeutischen - unserem - Diskurs. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft und für unser Subsystem tragen wir die Verantwortung. Wenn wir also gesellschaftliche Bedingungen kritisieren, heißt das auch, dass wir unser eigenes Tun hinterfragen müssen.

Wenn sich die Zahl der depressiv Erkrankten Menschen in unserer Gesellschaft (um diesen Bereich nur exemplarisch herauszugreifen) ständig erhöht, liegt das nicht nur an den Arbeitsbedingungen und an den persönlichen Einstellungen der Individuen, sondern auch an einem Gesundheitssystem, das per Definitionsmacht "Krankheiten" produziert. Und daran arbeiten wir PsychotherapeutInnen eifrig mit, indem wir noch mehr Technologien und Methoden zur Behandlung aus dem Sack zaubern (das sind eher die anderen), noch mehr Diagnosen kreieren oder auch mehr und mehr Lebensbereiche mit unserem therapeutischen Wissen und unseren Kompetenzvermittlungen überziehen (das sind auch wir!).  Ohne das scheint gar nichts mehr zu gehen. Die  Psychopathologisierung des Alltagslebens ist zwar ein alter Hut, aber ungebrochen auf dem Vormarsch und  führt gleichzeitig zum Ansteigen der Zahl von Leidenden und Behandlern. Wir bieten immer mehr Therapien für immer mehr "Erkrankte" an, "schulen" immer mehr Menschen in ihren täglichen Aufgabenbereichen und produzieren damit weiter das Symptom, ganz gemäß dem mehr desselben nach Watzlawick.

Mitte der 90er Jahre gab es durch die Etablierung neuer Fakultäten der Gesundheitswissenschaften in Deutschland den Versuch dem Pathologisierungswahn etwas entgegenzusetzen. Aber meines Erachtens kann dieses Vorhaben in weiten Teilen als gescheitert angesehen werden. Durch den Gedanken der Gesundheitsförderung und dem Focus auf der Prävention von Krankheiten hat sich das Pathologische und dabei die Gesundheitsindustrie noch mehr Terrain erobert, nämlich den Zeitraum vor einer Diagnose. Denn gefühlt ist so etwas entstanden wie: wenn ich nicht vorbeuge oder kontrolliere, bin ich vielleicht schon krank. Diese Entwicklung ist völlig konträr zu dem - zugegeben hoch gesteckten - Ziel und der Definition von Gesundheit der WHO, in der Gesundheit als Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen gesehen wird. Es scheint, als hätte die Dynamik des Diskurses auch diese Hürde mühelos überwunden.

So geht es uns TherapeutInnen nicht anders als den Akteuren in anderen Arbeitsbereichen bzw. gesellschaftlichen Teilbereichen: wir fahren weiter im gleichen Modus und ändern nichts - nicht, weil wir nicht genug über all diese Zusammenhänge wissen, sondern obwohl wir sie wissen. Das ist in der Finanzkrise, in der ökologischen Krise und all den anderen Krisen genauso. Sind wir also dem System machtlos ausgeliefert oder haben wir die Chance etwas zu verändern?

Wir als Menschen, Arbeitende mit personzentrierter Haltung glauben an Veränderung. Und obwohl wir uns immer noch als outlaws im psychotherapeutischen Sektor verstehen: wir sind nicht die Guten, wenn wir trotz all unseres Wissens so weitermachen wie bisher.  Ich befürchte, auch die Einschätzung, Personzentrierte Therapie sei Politik im emanzipatorischen Sinne, so wie sie Peter F. Schmid postuliert (Schmid, 2013) - und mit der ich mich auch eine lange Zeit beruhigt habe - scheint mir nicht hinreichend, zumindest nicht, wenn wir diese Haltung nicht in größere Diskussionszusammenhänge tragen. Es bleibt die Frage, welchen Anteil wir in unserem Bereich haben, wenn ein Besser, Weiter, Mehr nicht zu weniger "Kranken" führt, sondern zu mehr? Wir werden nicht darum herum kommen, an dem eigenen Ast, auf dem wir bequem sitzen, zu sägen, damit nicht der ganze Baum irgendwann umfällt.

In den vielen Jahren der unsäglichen Diskussionen um das PTG und den unzähligen Versuchen in das System hineinzukommen (die natürlich ihre Berechtigung hatten) ist meines Erachtens etwas völlig in Vergessenheit geraten: Ein Therapeut/eine Therapeutin ist dann "gut", wenn er/sie daran arbeitet sich selbst überflüssig zu machen, im Individuellen, aber auch gesamtgesellschaftlich. Wenn wir nur noch als ausführende Behandler auftreten ohne diesen Widerspruch in unserem Bewusstsein, verhalten wir uns nicht anders als die vielen Technokraten, die wir als Personzentrierte so gern kritisieren.

Also "Was tun?", um diese Leninsche Frageformel aufzugreifen, die sich auch Milo Rau (2013) in seinem brillanten Essay zur "Kritik der postmodernen Vernunft" stellt. Oder vielleicht auch: aufhören zu tun, denn das machen wir ja die ganze Zeit, sondern erstmal "Selbst Denken", wie es Harald Welzer (2013) zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft vorschlägt. Wie kommen wir wieder heraus aus einer sich ad absurdum führenden therapeutischen Gesellschaft?
Um nicht mit einer Frage zu enden, möchte ich zumindest einen mir bekannten Ansatzpunkt aus humanistischer Perspektive anführen. Die Systemiker Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda (2013) skizzieren in ihren Beiträgen eine Entwicklung hin zu einer "posttherapeutischen Gesellschaft", in der Theorie und Praxis des Helfens aufmerksamer auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und politischen Reformbedarf eingehen. Ihre Kritik bezieht sich besonders auf die Sprache und damit auch auf die Diagnostik, die im therapeutischen Setting verwendet wird. Allerdings scheint mir ihr Ziel einer "Diversität der Narrationen" eher in einem postmodernen "anything goes" stecken zu bleiben (vgl. dazu Milo Rau, 2013).

Ich selbst bin auf weiter Strecke schlichtweg ratlos. Die Formulierung dieser unfertigen Gedanken sind mein Versuch, diese Ratlosigkeit und die eigene Begrifflichkeit zumindest etwas genauer zu fassen. Es gibt dabei einen einzigen Punkt, der sich mir dabei nicht zur Disposition stellt. Das ist das menschliche Leiden als conditio humana. In unserer technologischen Welt haben wir gänzlich den Umgang damit verloren, eine ganze Kultur mit Wissen, Ritualen und Handlungsweisen (s. Illich, 1995). Wir PsychotherapeutInnen sollten endlich damit aufhören von Gesundheit und Krankheit zu sprechen und es uns auch nicht vorschreiben lassen. Wir sollten stattdessen das Leiden wieder zulassen, es als solches benennen. Dies kommt meines Erachtens in unserer Gesellschaft, in unserem System, einer Quadratur des Kreises gleich, da sich Leiden nicht in ökonomische Kategorien pressen lässt - auch wenn in diese Richtung, z. B. in der Altenpflege, bereits Anstrengungen unternommen werden. Dabei wären auch die traditionellen Therapie-Settings zu überdenken, denn auch Existentielle TherapeutInnen (die dem schon sehr nahe kommen, was ich meine) haben meist ein Interesse sich innerhalb der Systemgrenzen zu bewegen.

Es ist mir klar, dass viele personzentriert denkende und arbeitende Menschen sich  vielleicht nur ungern auf solche grundsätzlichen Fragen einlassen möchten, da das vorrangige Ziel jahrelang war und immer noch ist sich auf dem Psychotherapiemarkt zu etablieren. Andererseits können bei einem  "Zwischen-den-Stühlen-Sitzen" auch immer wieder Handlungsspielräume entstehen. An der Stelle würde ich gerne Carl Rogers aus einer Rede vom August 1973  (!) zitieren: "Unsere Kultur, die in wachsendem Maß auf der Eroberung der Natur und der Herrschaft über den Menschen beruht, ist im Zerfall begriffen. Aus ihren Trümmern entsteht der neue Mensch, mit einem hohen Grad an Bewusstsein, ........, zornig über die Konformität von Institutionen und das Dogma der Autorität. Er sieht keinen Sinn darin, sich in seinem Verhalten formen zu lassen oder das Verhalten anderer zu formen" (Rogers, Rosenberg, 2005). Ich befürchte, wir befinden uns noch im ersten Teil dieser Prophezeiung.

Literatur:
Epstein, E., Wiesner, M. & Duda, L. (2013): Abschied vom Größenwahn des DSM/ICD: Konstruktionen einer posttherapeutischen Welt. Zeitschrift für Therapie und Beratung 31 (4), S. 168-179.
Hein, J. & Hentze, K. O. (2007). Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur. Berlin: dpv.
Illich, I. (1995). Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikaliserung des Lebens. München: Beck.
Rau, M. (2013). Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Zürich, Berlin: Kein & Aber.
Rogers, C. & Rosenberg, R. L. (2005): Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta.
Schmid, P. F. (2013): The most personal is the most political. Der Therapeut als Politiker - Eine Analyse, ein personzentriertes Plädoyer und eine Konfliktanzeige. PERSON 1, S. 47-59.
Welzer, H. (2013): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Andrea Sacher
Diplom-Psychologin, Master of Public Health, Personzentrierte Psychotherapeutin
Freiberuflerin
Kontakt: a.sachergaia.de