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Wir zuerst!

Was sich bereits im vergangenen Jahr abzeichnete, gewinnt nun, zu Beginn 2017, immer mehr Konturen: Populismus und Egoismus sind auf dem Vormarsch. Nach der Entscheidung für den „Brexit“ und der Wahl von Donald Trump stehen nun in Holland, Frankreich, Italien und Deutschland Wahlen an, deren Ergebnisse uns alle in Europa vor Herausforderungen stellen werden.

In Deutschland werden die Verhältnisse dabei noch am stabilsten bleiben, auch wenn zu befürchten steht, dass die AfD mit ihren fremdenfeindlichen Parolen eine beträchtliche Anzahl an Mandaten für den Bundestag gewinnen kann. Schon in Holland – wo die Wahl bereits vorüber ist, wenn die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift das Heft in Händen halten – droht ein Sieg der islamfeindlichen „Partij voor de Vrijheid“ (PVV), deren Vorsitzender, Geert Wilders, die „De-Islamisierung der Niederlande“ ins Programm geschrieben hat. In Frankreich könnte die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen und ihr „Front National“ die Wahl am 7. Mai gewinnen. Das Wahlversprechen, Frankreich gegen Einwanderer und Importwaren abzuschotten – was wir schon von Donald Trump kennen – und aus dem Euro auszusteigen, begeistert jedenfalls derzeit breite Bevölkerungsgruppen im Nachbarland. In Italien dauert die Legislaturperiode zwar offiziell noch bis 2018, man geht allerdings allgemein davon aus, dass es noch in der ersten Jahreshälfte 2017 zu Neuwahlen kommen wird. Hier drängen mit Beppe Grillo, dem Anführer der Fünf-Sterne-Bewegung, und Matteo Salvini, Führer der Post-Faschisten der Lega Nord, gleich zwei Anti-Europäer an die Macht.

Anders als in den USA bedeutet selbst ein Wahlsieg noch nicht, dass diese Parteien und ihre demagogischen Anführer auch die Regierung bilden werden. Aber welche Regierungen wir Ende 2017 in Europa haben werden, ist ohnedies nicht die Frage, über die hier nach-gedacht werden soll. Bedeutsamer scheint mir der Aspekt, dass überhaupt so viele Menschen für vage und inhaltsarme, populistische Programme mit Fremdenhass und Egoismen empfänglich geworden sind, obwohl sie in vergleichsweise langjährigen Demokratien leben, die sich mehr oder minder formal zu „christlichen“ Werten wie der „Nächstenliebe“ bekennen.

Das Motto „Wir zuerst!“ hat in diesen Zeiten offensichtlich große Anziehungskraft und stößt auf breite Zustimmung. Doch: Wer ist eigentlich mit „wir“ gemeint

Nimmt man die zunehmend auch medial vernehmbaren Stimmen der Anhänger, Unterstützer und Sympathisanten dieser Bewegungen zur Kenntnis, so ist eine tiefe Verbitterung darüber festzustellen,
dass man sich von proklamierten Segnungen des Fortschritts abgehängt und ausgeschlossen fühlt. Für diese Menschen klingt es wie Hohn, wenn die statistischen Durchschnittszahlen zwar zunehmenden Wohlstand verkünden, sie sich selbst aber von Jobverlust und Armut bedroht sehen. Mit Wut müssen sie zusehen, wie für die vermeintlich notwendige Rettung der Banken Hunderte von Milliarden aus ihren Steuergeldern aufgebracht werden – und diejenigen, die das Geld verzockt haben, Millionensummen an Belohnungen in Form von „Boni“ erhalten – während es gleichzeitig an Geld für Schulen, Kindergärten und anderen Einrichtungen der Sozialgemeinschaft fehlt. Sie fühlen sich ungerecht behandelt, wenn die „Normalbürger“ für kleine Versehen und Vergehen nicht nur ihren Arbeitsplatz bedroht sehen, sondern auch vom Staat oft mit großem Aufwand „zur Rechenschaft“ gezogen werden – während die sogenannten (und meist selbst ernannten) „Eliten“ den Staat als Selbstbedienungsladen ansehen, in dem man beliebig Steuern hinterziehen, Bestechungsgelder annehmen und andere Straftaten solange begehen kann, wie es eine dort überaus lasche und großzügige juristische Aufsicht ermöglicht. Und sie fühlen sich in ihrer Enttäuschung, Wut und Ohnmacht von den etablierten Parteien und Institutionen nicht wahrgenommen – geschweige denn: verstanden. Vielmehr erleben sie sich als ein zwar mächtig großes, aber faktisch ohnmächtiges, ignoriertes und entwertetes „Wir“.

Da ist es leicht für Demagogen, dem „Wir“ eine Stimme zu verleihen. Und weil bei intensiven Gefühlen von Missachtung und Wut ohnedies die Ratio weniger zum Zuge kommt, reicht es, vor allem die Emotionen aufzugreifen und ein möglichst einfaches, plakatives Bild der angeblichen „Ursachen“ zu zeichnen. Dazu gehört auch, mit klar definierten „Verursachern“ das Wir-Gefühl weiter zu schüren – ein „Wir“, das sich vor allem in Gegnerschaft zu den „Anderen“ formt, und das einen Wettlauf inszeniert, wo manche (eben: „wir“) angeblich zu Gewinnern werden und andere halt zu Verlierern. Ausländer und Flüchtlinge eignen sich für solche Feindbilder besonders gut.

Was können Humanisten und Personzentrierte da tun? Zunächst scheint mir wichtig, sich nicht auf diese Gewinner-Verlierer-Spiele einzulassen, sondern sich auf die Tugenden des Personzentrierten Ansatzes zu besinnen, nämlich die Anhänger dieser Bewegungen nicht zu verteufeln, sondern aus ihrem inneren Bezugsrahmen heraus zu verstehen – ohne „gemeinsame Sache“ mit ihnen zu machen. Ignorieren, Entwerten, und Missverstehen waren letztlich wesentliche Beiträge zur Radikalisierung (auch wenn dies allein eine zu einfache Erklärung abgeben würde). Stattdessen wäre es wichtig, die konstruktive Seite des „Wir“ aufzunehmen und angemessen zu erweitern – auf ein „Wir“, das alle Menschen (möglichst sogar: alle Lebewesen) auf diesem Planeten umfasst und berücksichtigt. Dies würde auch die Erfahrung so vieler Menschen aufnehmen, ausgegrenzt und ignoriert zu werden. Der so entstehende Leitsatz wäre „Wir zuerst – und nicht Einzelne oder Partikularinteressen“.